Warenverkehrsfreiheit, Art. 23 ff. EG. Verbot von Ausfuhrbeschränkungen, Art. 29 EG. Rechtfertigung von Beschränkungen im Interesse des Verbraucherschutzes. Verhältnismäßigkeit der Beschränkungen, Art. 5 III EG

EuGH Urteil vom 16. 12. 2008 (C-205/07) NJW 2009, 1579

Fall
(Lebensmittel im Fernabsatz - Santurel)

Die in Belgien ansässige Firma Santurel (S) vertreibt Lebensmittelzusätze. Sie werden online bestellt und auf dem Postweg versandt. Die Bezahlung hat nach den Geschäftsbedingungen der S acht Tage nach Empfang der Ware zu erfolgen. Bei Lieferungen in das Ausland werden nur Kreditkarten als Zahlungsmittel akzeptiert, wobei der Kunde bei der Bestellung Nummer und Geltungsdauer der Karte angeben muss.

Nach belgischem Recht besteht bei Fernabsatzverträgen - im Einklang mit EU-Recht - ein Rücktrittsrecht innerhalb von sieben Tagen nach Empfang der Ware. Unter Bezugnahme darauf bestimmt Art. 80 § 3 des belgischen Verbraucherschutzgesetzes, dass vor Ablauf der Rücktrittsfrist vom Verbraucher keine Zahlung gefordert werden darf. Darüber hinaus untersagte die zuständige belgische Behörde der Firma S, bei der Bestellung die Kreditkartendaten zu fordern, weil S dadurch die Möglichkeit erhalte, den Kaufpreis schon vor Ablauf der Rücktrittsfrist einzuziehen, was gegen Art. 80 § 3 verstoße.

S macht geltend, sie müsse sicherstellen, dass sie für die häufig nur verhältnismäßig geringen Kaufpreisbeträge zuverlässig Zahlung erhalte und säumige Zahler nicht im Ausland verklagen müsse. Das beste Mittel hierfür sei, Vorauszahlung zu verlangen. Zumindest müsse sie die Kreditkartendaten einfordern können, wobei sie sich verpflichte, vor Ablauf der Rücktrittsfrist von der Einzugsmöglichkeit keinen Gebrauch zu machen. Wenn das belgische Recht ihr diese Wege abschneide, handele es sich um eine europarechtswidrige Beeinträchtigung des freien Handels im Binnenmarkt. Ist diese Auffassung zutreffend ?

A. Firma S wendet sich dagegen, dass sie (1) nach belgischem Verbraucherschutzgesetz (Art. 80 § 3) vor Ablauf der Rücktrittsfrist keine Zahlung verlangen darf und (2) auf Grund behördlicher Untersagung vor Ablauf der Frist auch keine Kreditkartendaten verlangen darf.

B. Beide Maßnahmen könnten gegen die in Art. 23 - 30 EG-Vertrag (EG) gewährleistete Warenverkehrsfreiheit verstoßen. Die Warenverkehrsfreiheit ist eine der Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes (Art. 14 II EG); die anderen sind: Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, freier Zahlungs- und Kapitalverkehr).

I. Dann müssten die belgischen Maßnahmen Waren (vgl. Art. 23 II EG) betreffen. Die von S gelieferten Lebensmittelzusätze sind Waren.

II. Die Verbote zum Schutz der Warenverkehrsfreiheit richten sich grundsätzlich nur gegen staatliche Maßnahmen. Die hier zu prüfenden Maßnahmen sind solche des belgischen Staates, so dass diese Voraussetzung erfüllt ist.

III. Als Verbotsnormen kommen Art. 28 oder Art 29 EG in Betracht. Art. 28 EG hat Einfuhrbeschränkungen, Art. 29 EG hat Ausfuhrbeschränkungen zum Gegenstand. EuGH Rdnr. 36:  Zur Vereinbarkeit von Art. 80 § 3 des Verbraucherschutzgesetzes mit Art. 28 EG ist festzustellen, dass eine Vorgehensweise, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, nicht die Einfuhr, sondern vielmehr die Ausfuhr von Waren aus Belgien in andere Mitgliedstaaten betrifft.  Somit ist Art. 29 EG einschlägig. Da diese Vorschrift das gleiche Ziel hat wie Art. 28, nämlich den freien Handel zwischen den Mitgliedstaaten gegen Behinderungen zu schützen, sind ähnliche Erwägungen anzustellen wie bei der Grundsatznorm des Art. 28.

IV. Art. 29 greift ein, wenn eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung vorliegt.

1. Ähnlich wie nach der Dassonville-Formel zu Art. 28 fällt auch unter Art. 29 eine Regelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, wobei dies - im Unterschied zu Art. 28 - durch Erschwernisse bei der Ausfuhr geschieht.

a)
EuGH Rdnr. 40:  Hierbei sind nationale Maßnahmen, die spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel eines Mitgliedstaats und für seinen Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt, als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen eingestuft worden (Urteil vom 8. November 1979, Groenveld, 15/79, Slg. 1979, 3409, Randnr. 7).

b) Im vorliegenden Fall besteht allerdings die Besonderheit, dass der belgische Staat nicht seine eigenen Unternehmen im Vergleich zu ausländischen bevorzugt, sondern dass er den Absatz der eigenen Unternehmen erschwert. Dieser Umstand steht aber der Annahme eines Handelshemmnisses bei der Ausfuhr nicht entgegen. EuGH Rdnr. 41:  Im Ausgangsverfahren nimmt…das Verbot, eine Vorauszahlung zu verlangen, den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern ein wirksames Instrument, um sich gegen das Risiko der Nichtzahlung zu schützen. Dies gilt erst recht, wenn die in Rede stehende nationale Bestimmung dahin ausgelegt wird, dass sie den Lieferanten selbst dann untersagt, von den Verbrauchern die Nummer ihrer Kreditkarte zu verlangen, wenn sich die Lieferanten verpflichten, nicht vor Ablauf der Rücktrittsfrist von dieser für die Einziehung der Zahlungsbeträge Gebrauch zu machen.

Unter Rdnr. 42 fügt der EuGH hinzu:  Die dadurch den Unternehmen auferlegte Belastung ist  beim grenzüberschreitenden Direktverkauf an die Verbraucher, insbesondere über das Internet, schwerwiegender, weil u. a. die Verfolgung säumiger Zahler in einem anderen Mitgliedstaat mit Schwierigkeiten verbunden ist, vor allem, wenn es um verhältnismäßig geringe Beträge geht.

2. Dass die Beschränkungen für alle Wirtschaftsteilnehmer in Belgien gleichermaßen gelten, ändert am Vorliegen eines Handelshemmnisses für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nichts. EuGH Rdnr. 43:  Selbst wenn ein Verbot wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende für alle inländischen Wirtschaftsteilnehmer gilt, betrifft es tatsächlich jedoch die Ausfuhren, d. h., wenn die Waren den Markt des Ausfuhrmitgliedstaats verlassen, stärker als den Absatz der Waren auf dem inländischen Markt.

3. Somit fallen die Regelungen gemäß Art. 80 § 3 des Verbraucherschutzgesetzes unter Art. 29 EG und sind damit grundsätzlich verboten. EuGH Rdnr. 44:  Daher stellt ein nationales Verbot, das wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem Lieferanten beim Fernabsatz untersagt, vor Ablauf der Rücktrittsfrist eine Anzahlung oder Zahlung zu verlangen, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung dar. Gleiches gilt für das Verbot, das dem Lieferanten selbst dann untersagt, von den Verbrauchern die Nummer ihrer Kreditkarte zu verlangen, wenn er sich verpflichtet, nicht vor Ablauf dieser Frist von ihr für die Einziehung der Zahlungsbeträge Gebrauch zu machen.

V. Die Maßnahmen könnten jedoch gerechtfertigt sein. Insofern gilt Gleiches wie bei den unter Art. 28 EG fallenden Einfuhrbeschränkungen. EuGH Rdnr. 45:  Eine nationale Maßnahme, die gegen Art. 29 EG verstößt, kann aus einem der in Art. 30 EG aufgeführten Gründe oder durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sofern diese Maßnahme im rechten Verhältnis zu dem verfolgten rechtmäßigen Zweck steht.

1. Rdnr. 46:  Im Kontext des Ausgangsverfahrens kommt keiner der in Art. 30 EG aufgeführten Gründe zum Zuge.

2. Es könnte ein zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses rechtfertigend eingreifen.

a) EuGH Rdnr. 47:  Nach ständiger Rechtsprechung kann der Verbraucherschutz ein berechtigtes Ziel des Allgemeininteresses darstellen, das geeignet ist, eine Beschränkung des freien Warenverkehrs zu rechtfertigen (vgl. Urteile vom 20. Februar 1979, Rewe-Zentral, 120/78, Slg. 1979, 649, Randnr. 8, und vom 23. Februar 2006, A-Punkt Schmuckhandel, C‑441/04, Slg. 2006, I‑2093, Randnr. 27).

Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass die in Rede stehende Bestimmung mit dem Ziel erlassen worden ist, den Verbraucherschutz und insbesondere die wirksame Ausübung des dem Verbraucher…garantierten Rücktrittsrechts sicherzustellen…Das Verbot, vom Verbraucher vor Ablauf der Rücktrittsfrist eine Anzahlung oder Zahlung zu verlangen, soll gewährleisten, dass der Verbraucher sein Rücktrittsrecht tatsächlich ausüben könne, indem gerade vermieden werde, dass die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Rückforderung bereits gezahlter Beträge ihn von der Ausübung dieses Rechts abschreckten.

Rdnr. 49:  Aufgrund der den Mitgliedstaaten… eingeräumten Möglichkeit,… strengere Bestimmungen zu erlassen, hat das Königreich Belgien sich dafür entschieden, den Verbraucher stärker zu schützen, indem es den Lieferanten nicht nur verbietet, eine Vertragsstrafe für die Ausübung des Rücktrittsrechts zu verhängen, sondern auch, vor Ablauf der Rücktrittsfrist eine Anzahlung oder Zahlung zu verlangen. Mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung soll somit die Freiheit des Verbrauchers gestärkt werden, die vertraglichen Beziehungen zu beenden, ohne dass er sich um die Rückzahlung von ihm im voraus gezahlten Beträge sorgen müsste.

Auch die weitere Regelung, dass keine Kreditkartendaten eingefordert werden dürfen, soll die Verbraucher davor schützen, dass ihnen durch vorzeitige finanzielle Inanspruchnahme die Geltendmachung des Rücktrittsrechts erschwert wird.

b) Die Maßnahmen des belgischen Staates müssten aber auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, niedergelegt in Art. 5 III EG, entsprechen. EuGH Rdnr. 50:  Es bleibt zu prüfen, ob diese Bestimmung [Art. 80 § 3 Verbraucherschutzgesetz] wie auch ihre Auslegung durch die nationalen Behörden im rechten Verhältnis zum verfolgten Zweck steht. Rdnr. 51:  Nach ständiger Rechtsprechung entspricht eine nationale Regelung nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die gewählten Mittel nicht nur zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet sind, sondern auch das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen (vgl. Urteil vom 14. September 2006, Alfa Vita Vassilopoulos und Carrefour‑Marinopoulos, C‑158/04 und C‑159/04, Slg. 2006, I‑8135, Randnr. 22).

aa) EuGH Rdnr. 52:  Das Verbot, vor Ablauf der Rücktrittsfrist eine Anzahlung oder Zahlung zu verlangen, ist ebenso wie das Verbot, von den Käufern die Angabe ihrer Kreditkartennummer zu verlangen, geeignet, ein hohes Schutzniveau für die Verbraucher beim Fernabsatz insbesondere in Bezug auf die Ausübung ihres Rücktrittsrechts sicherzustellen.

bb) Der Prüfung der Erforderlichkeit stellt der EuGH die Überlegung voran (Rdnr. 54),  dass eine der Besonderheiten der Fernabsatzverträge die zeitliche Spanne ist, die oft zwischen der Erfüllung der jeweiligen Pflichten der Parteien liegt. So kann der Verbraucher gezwungen sein, die Ware vor ihrem Empfang zu bezahlen, oder umgekehrt kann der Lieferant seine Ware vor Zahlung des Preises liefern müssen. Diese zeitliche Spanne birgt für die Vertragsparteien ein spezielles Risiko der Nichterfüllung in sich.

(1) Was das Verbot eines vorherigen Zahlungsverlangens betrifft, soll dieses dem Verbraucher das Risiko abnehmen, dass er den Kaufpreis, wenn er ihn vorher gezahlt hat, nach Ausübung des Rücktrittsrechts nicht zurückerhält. Bei vorheriger Zahlung würde er wegen dieses Risikos vielfach das Rücktrittsrecht nicht mehr ausüben. Insoweit ist, wenn der Verbraucher wirksam geschützt werden soll, ein milderes Mittel als das Verbot vorheriger Zahlung nicht ersichtlich. EuGH Rdnr. 56:  Auch wenn das Verbot, innerhalb der Rücktrittsfrist Zahlung zu verlangen, die Unsicherheit des Lieferanten, ob der Preis für gelieferte Ware bezahlt wird, erhöht, ist dieses Verbot notwendig, um das Schutzniveau zu gewährleisten, das mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung angestrebt wird. Ein Verbraucher, der den Lieferanten im voraus bezahlt hat, dürfte nämlich weniger geneigt sein, sein Rücktrittsrecht auszuüben, selbst wenn die gelieferten Waren seinen Anforderungen nicht vollständig entsprechen.

Somit ist die in Art. 80 § 3 des Verbraucherschutzgesetzes enthaltene Regelung erforderlich und insgesamt gerechtfertigt. Sie verletzt europäisches Recht nicht.

(2) Das Verbot gegenüber dem Lieferanten, die Kreditkartennummer des Verbrauchers zu verlangen, wird von der zuständigen Behörde aus Art. 80 § 3 des Verbraucherschutzgesetzes abgeleitet. Es soll das Risiko ausschließen, dass der Lieferant den Kaufpreis vor Ablauf der Rücktrittsfrist einzieht. Ein solches Einziehen ist ihm aber durch Art. 80 § 3 des Verbraucherschutzgesetzes verboten. Im vorliegenden Fall hat S sich dementsprechend verpflichtet, vor Ablauf der Rücktrittsfrist keine Einziehung vorzunehmen. Es ist nicht ersichtlich, dass S sich nicht daran hält. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, der Firma F die Möglichkeit zu nehmen, sich die Kreditkartendaten geben zu lassen, um nach Ablauf der Frist den Kaufpreis über die Kreditkarte einzuziehen.

EuGH Rdnr. 62:  Folglich geht das Verbot, das dem Lieferanten untersagt, vom Verbraucher die Nummer seiner Kreditkarte zu verlangen, über das für die Erreichung des verfolgten Zwecks erforderliche Maß hinaus.  Dieses Verbot ist unverhältnismäßig und nicht gerechtfertigt. Es bleibt dabei, dass es Art. 29 EG verletzt und damit gegen EU-Recht verstößt.


Zusammenfassung