Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

EU-Recht: Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV. Binnenmarkt, Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV. Verkaufsmodalität. Rechtfertigung von Beschränkungen zum Schutz der Gesundheit, Art. 36 AEUV. Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung


EuGH Urteil vom 23. 12. 2015 (C-333/14) NJW 2016, 621

Fall
(Mindestpreise für Alkohol)

Im Staat S, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, hat seit einigen Jahren der Alkoholkonsum stark zugenommen, weshalb mit vermehrten Gesundheitsschäden und erhöhten Gesundheitskosten zu rechnen ist. Nachdem Fachleute vorgeschlagen hatten, den derzeit niedrigen Preis für Alkohol deutlich anzuheben, wurde ein Gesetz erlassen, in dem Mindestpreise für alkoholische Getränke (MPA) vorgeschrieben wurden (MPA-Gesetz). Der Mindestpreis berechnet sich nach einer Formel, deren wesentliche Elemente die Menge in Litern und der Alkoholgehalt sind. Die Regierung kann den Mindestpreis für bestimmte Getränkesorten gemäß der Formel festlegen. Bei der Vorbereitung des Gesetzes wurde als Alternative auch eine Erhöhung der Alkoholsteuer erwogen. Es wurde aber befürchtet, dass dann ausländische Anbieter, die niedrigere Lohnkosten haben, ihren Preisvorteil behalten und zur Absatzsteigerung nutzen. Demgegenüber wurde es als Vorteil des Mindestpreises angesehen, dass alle Anbieter gleich behandelt werden.

Die in S ansässige Firma F stellt alkoholische Getränke her und vertreibt sie. Sie hat vor dem Obersten Gerichtshof des Staates S Klage gegen das MPA-Gesetz erhoben. Zur Begründung verweist sie darauf, dass es in der EU seit langem eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Produkte gibt. Zwar enthalten die hierfür erlassenen Vorschriften keine Regeln darüber, ob Mindestpreise zulässig oder unzulässig sind. Nach Auffassung der F sind Mindestpreise aber mit dem gemeinsamen Markt für Agrarprodukte und dem Prinzip des freien Warenverkehrs unvereinbar. In dem Klageverfahren hat der Oberste Gerichtshof des Staates S dem EuGH die Frage vorgelegt, ob staatlich festgelegte Mindestpreise für alkoholische Getränke mit dem EU-Recht vereinbar sind (und dies unter Bezugnahme auf das MPA-Gesetz genauer ausgeführt und begründet). Wie wird der EuGH über diese Frage entscheiden?

Vorbemerkung: Der Originalfall betraf ein vom Parlament Schottlands erlassenes Gesetz, gegen das die Scotch Whisky Association Klage erhoben hatte. Über die Klage zu entscheiden hatte in letzter Instanz der Oberste Gerichtshof Schottlands, der Court of Session, der im Rahmen dieses Verfahrens den Vorlagebeschluss zum EuGH erlassen hatte.

A. Es handelt sich um ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Dieses müsste zulässig sein.

I. Das ist nur der Fall, wenn das vorlegende Gericht vorlageberechtigt ist. Vorlageberechtigt sind alle nationalen Gerichte (Art. 267 Abs. 2 AEUV). Darüber hinaus war der Oberste Gerichtshof des Staates S nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet.

II. Ferner muss es sich um eine vorlagefähige Frage handeln. Vorlagefähig sind nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) AEUV Fragen nach der Auslegung der Verträge (EUV und AEUV) und nach Buchst. b) AEUV solche nach der Gültigkeit und der Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Die Vereinbarkeit und Gültigkeit des MPA-Gesetzes als eines Gesetzes des Staates S ist nicht unmittelbar Gegenstand des Vorlageverfahrens.

1. Mindestpreise könnten mit dem EU-Binnenmarkt unvereinbar sein. Diese Frage wäre durch Auslegung der Vorschriften über den Binnenmarkt (Art. 26 ff. AEUV) zu entscheiden; insoweit greift Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) AEUV ein.

2. Primär hält die Firma F Mindestpreise für unvereinbar mit der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte. Die dahin gehenden Vorschriften finden sich in Art. 40 AEUV; insoweit würde es sich wiederum um eine Frage der Auslegung der Verträge (Art. 267 Abs. 1 a AEUV) handeln. In Betracht kommt auch eine Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften (Verordnungen und Richtlinien) über die Agrarmärkte. Diese Vorschriften sind Handlungen der EU-Organe, deren Auslegung unter Art. 267 Abs. 1 b) AEUV fällt.

Somit handelt es sich bei der Frage der Vereinbarkeit von Mindestpreisen mit dem EU-Recht um unter Art. 267 Abs. 1 AEUV fallende Fragestellungen.

III. Die vorgelegten Fragen müssen für den Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht, also für das Ausgangsverfahren, entscheidungserheblich sein.

1. Dabei genügt nach Art. 267 Abs. 2 AEUV, dass das vorlegende Gericht die Entscheidung einer Frage für erforderlich hält. Deshalb prüft der EuGH nicht selbst die Entscheidungserheblichkeit, sondern lässt es genügen, dass das vorlegende Gericht diese dargelegt hat, und knüpft daran die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, die aber widerlegt werden kann. EuGH EuZW 2013, 306, Melloni, [28] Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise widerlegt werden, wenn die erbetene Auslegung der in den Fragen genannten Vorschriften des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.

2. Der vorliegende Fall ist insoweit allerdings unproblematisch: Wären Mindestpreise bei Alkohol mit den genannten Vorschriften unvereinbar, wäre das MPA-Gesetz wegen Verstoßes gegen EU-Recht unanwendbar, und es müsste der Klage der F stattgegeben werden. Folglich sind die vorgelegten Fragen entscheidungserheblich.

Die Vorlage ist zulässig.

B. Zu prüfen und zu entscheiden ist, ob EU-Recht der Festlegung von Mindestpreisen für Alkohol entgegen steht.

I. Mindestpreise könnten gegen die gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und die dazu gehörende gemeinsame Organisation der Agrarmärkte (GMO), geregelt in Art. 38 ff. AEUV, verstoßen.

1. Die GAP und die GMO sind auf landwirtschaftliche Erzeugnisse anwendbar, die gemäß Art. 38 Abs. 3 AEUV im Anhang I zum AEUV aufgeführt sind. Dort sind auch aus Naturprodukten gewonnene alkoholische Getränke aufgeführt. EuGH [14, 15] Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte (GMO) gemäß Art. 40 Abs. 2 AEUV alle zur Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik im Sinne von Art. 39 AEUV erforderlichen Maßnahmen, insbesondere Preisregelungen, einschließen kann. Außerdem soll…eine GMO für alle in Anhang I des EUV und des AEUV aufgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse, zu denen Wein gehört, geschaffen werden. Somit werden eine Reihe von alkoholischen Getränken und insbesondere Wein von der GAP und der GMO erfasst.

2. Eine Regelung von Mindestpreisen für Agrarprodukte durch ein nationales Gesetz wäre unzulässig, wenn die EU für das Sachgebiet der GAP und GMO über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügen würde. Die Fälle der ausschließlichen Zuständigkeit sind in Art. 3 AEUV aufgeführt, erfassen aber weder den Sektor der Agrarpolitik insgesamt noch speziell die Preise für Agrarerzeugnisse. Vielmehr haben Union und Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Landwirtschaft eine geteilte Zuständigkeit (Art. 3 Abs. 2 d) AEUV). Bei der geteilten Zuständigkeit bleiben nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV die Mitgliedstaaten zuständig, soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (ähnlich wie bei der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 72 I GG). Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die EU über Zuständigkeiten verfügt und von ihnen Gebrauch gemacht hat.

a) Die Befugnisse der EU zu Regelungen im Bereich der GAP und GMO ergeben sich aus Art. 40 ff. AEUV. Von diesen Befugnissen hat die EU umfangreich Gebrauch gemacht. Jedoch enthalten die getroffenen Regelungen, wie im Sachverhalt festgestellt wird, keine Vorschriften darüber, ob Mindestpreise zulässig oder unzulässig sind. Durch eine Regelung von Mindestpreisen hat die EU also keine Regelungsbefugnis ausgeübt.

b) Durch das umfangreiche Regelwerk über die GAP und die GMO könnte die EU dieses Sachgebiet abschließend geregelt haben (sog. Vollharmonisierung, so z. B. im Urheberrecht, im Verbraucherschutzrecht). Dann wären die Mitgliedstaaten auch von solchen Regelungen ausgeschlossen, die die EU nicht erlassen hat. Das landwirtschaftliche Preisrecht gehört aber zu keinem abschließend geregelten Bereich. Folglich haben GAP und GMO keine Sperrwirkung (Hoffmann NJW 2016, 625/6 in einer Anmerkung zum Urteil des EuGH).

3. Bei den vorstehenden Überlegungen wurde daran angeknüpft, dass die Mindestpreisfestsetzung Weine und andere alkoholische Agrarprodukte betrifft. Das von einem Gesetz wie dem MPA-Gesetz verfolgte Ziel ist aber nicht eine auf den Agrarsektor gerichtete Regulierung, sondern die Abwendung von Gefahren des Alkoholkonsums für die Gesundheit. Für den Bereich des Gesundheitswesens regelt Art. 168 AEUV eine Reihe von Aufgaben für Union und Mitgliedstaaten. Dabei behandelt Art. 168 Abs. 5 ausdrücklich Maßnahmen der Union gegen den Alkoholmissbrauch, jedoch „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“. Deshalb können die GAP und die GMO einer Festlegung von Mindestpreisen zum Zwecke des Gesundheitsschutzes nicht entgegen stehen. EuGH [26] Insoweit ist festzustellen, dass die Schaffung einer GMO es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, nationale Regelungen anzuwenden, die ein im Allgemeininteresse liegendes anderes Ziel als die von der betreffenden GMO erfassten Ziele verfolgt, selbst wenn diese Regelung einen Einfluss auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes im betroffenen Wirtschaftsbereich hat (…).

4. Weil somit in den EU-Vorschriften aus dem Bereich der GAP und der GMO weder eine positive noch eine abschließende Regelung der Zulässigkeit von Mindestpreise enthalten ist und weil ferner Mindestpreise wie die im MPA-Gesetz vorgesehenen dem Ziel des Gesundheitsschutzes dienen, verstößt ein Gesetz wie das MPA-Gesetz nicht gegen EU-Vorschriften aus dem Bereich der GAP und der GMO.

II. Ein Gesetz, das Mindestpreise für Alkohol festsetzt, könnte gegen Vorschriften über die Warenverkehrsfreiheit im Binnenmarkt verstoßen und deshalb unzulässig sein. Die Vorschriften über den Binnenmarkt sind grundsätzlich auch auf landwirtschaftliche Erzeugnisse anwendbar (Art. 38 Abs. 2 AEUV). Nach Art. 34 AEUV, einer zentralen Vorschrift für den Binnenmarkt, sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten.

1. Art. 34 AEUV steht im Abschnitt über den freien Warenverkehr. Deshalb muss ein Sachverhalt vorliegen, bei dem es um Waren geht, die aus einem anderen Mitgliedstaat der EU stammen (vgl. Art. 28 II AEUV). Alkoholische Getränke sind Waren. Da ein Gesetz wie das MPA-Gesetz nicht zwischen den im Inland erzeugten und den importierten Waren unterscheidet, erfasst es auch Produkte aus dem Ausland und hat insoweit einen grenzüberschreitenden Anwendungsbereich. Dass die Firma F im Inland ansässig ist und ihre Ware deshalb nicht aus einem anderen Mitgliedstaat stammt, ist unerheblich, weil es im Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH um Fragen des EU-Rechts und weder unmittelbar um das MPA-Gesetz noch um den Fall der F geht. Auch kann die Vereinbarkeit des MPA-Gesetzes mit EU-Recht nicht von der Eigenart einzelner Anwendungsfälle abhängig gemacht werden.

2. Art. 34 AEUV richtet sich gegen staatliche Maßnahmen. Ein Mindestpreise festsetzendes Gesetz eines Mitgliedstaates der EU ist eine staatliche und keine private Maßnahme.

3. Art. 34 AEUV untersagt mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen - solche liegen hier nicht vor - und Maßnahmen gleicher Wirkung.

a) EuGH [31, 32] Nach ständiger Rechtsprechung ist jede Maßnahme eines Mitgliedstaats, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne des Art. 34 AEUV anzusehen (vgl. Urteile Dassonville, Slg. 1974, 837 = NJW 1975, 515, Rn. 5, und Juvelta, C-481/12, EU:C:2014:11, Rn. 16). Wie der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen ausgeführt hat, ist die im Ausgangsverfahren streitige Regelung allein deshalb, weil sie verhindert, dass sich niedrigere Gestehungskosten eingeführter Erzeugnisse im Endverkaufspreis niederschlagen können, geeignet, alkoholhaltigen Getränken, die in anderen Mitgliedstaaten als dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland rechtmäßig vertrieben werden, den Zugang zum britischen Markt zu erschweren, und stellt somit eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV dar (…). Ohne Mindestpreis könnte ein ausländischer Hersteller, der niedrigere Kosten hat, billiger anbieten; das wird durch die Mindestpreisregelung ausgeschlossen, was für ihn eine Handelserschwerung im Vergleich zum Zustand ohne Mindestpreis bedeutet.

b) Nach der vom EuGH im Fall Keck (Slg. 1993, I-6097) begründeten Rechtsprechung wird Art, 34 AEUV eingeschränkt, wenn eine bloßen Verkaufs- oder Vertriebsmodalität gegeben ist. EuGH EuZW 2009, 173 („Keine Motorradanhänger in Italien“) [36] Hingegen ist die Anwendung nationaler Bestimmungen, die [1.] bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne der aus dem Urteil Dassonville hervorgegangenen Rechtsprechung… zu behindern, sofern [2.] diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie [3.] den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat…nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut (vgl. EuGH, Urteil Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 = NJW 1994, 121, Randnrn. 16 und 17). Beispiele für Verkaufsmodalitäten sind Ladenschlussregelungen und Werbeverbote. Von den Verkaufsmodalitäten zu unterscheiden sind Produktanforderungen; wenn diese den Marktzugang erschweren, sind sie ein unter Art. 34 AEUV fallendes Handelshemmnis.

Im vorliegenden Fall hat der EuGH die Frage einer Verkaufsmodalität nicht angesprochen, was auch in den Besprechungen von Hoffmann NJW 2016, 626 und Ogorek JA 2016, 557/8 festgestellt und dahin kommentiert wird, dass an ihre Stelle das oben a) behandelte Marktzugangskriterium getreten sei. Da der EuGH von dieser Rechtsprechung aber auch nicht ausdrücklich abgerückt ist, soll sie nachfolgend weiterhin zugrunde gelegt werden. Auch Ogorek empfiehlt, „in Klausuren jedenfalls vorerst weiterhin die Keck-Formel zu verwenden…“. Es wird sich zeigen, dass sich dadurch am Ergebnis des Falles nichts ändert.

(1) Eine Mindestpreisregelung stellt keine Anforderungen an das Produkt, sondern enthält Bedingungen, die beim Verkauf gelten. Sie ist folglich eine Verkaufsmodalität (Ogorek JA 2016, 558; EuGH Slg. 2009 I-3713 im Hinblick auf die Buchpreisbindung, die auch auf einen Mindestpreis zielt; Streinz/Schroeder, Kommentar zum EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 34 Rdnr. 65: Preisregelung hat keinen unmittelbaren Produktbezug).

(2) Eine Regelung, wie sie im MPA-Gesetz enthalten ist, ist allgemeinverbindlich und gilt daher für alle Anbieter von Alkohol in S gleichermaßen.

(3) Die Festsetzung eines Mindestpreises darf den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich nur in der gleichen Weise berühren, d. h. ausländische Anbieter dürfen nicht benachteiligt werden. Bei der Frage des Handelshemmnisses oben 3 a) wurde ausgeführt, dass ein ausländischer Anbieter wegen des Mindestpreises den Vorteil, dass er wegen der Produktion in einem anderen Land niedrigere Kosten hat, nicht mehr ausnutzen kann und ihm daher der Marktzugang erschwert wird. Diese Überlegung führt an dieser Stelle dazu, dass der Verkaufsmodalität eine ungleiche Wirkung zuzuerkennen ist. So auch EuGH Slg. 1978, 25 = NJW 1978, 1102 (Fall van Tiggele): Ein fester Mindestpreis, der, obwohl er für inländische wie für eingeführte Erzeugnisse gleichermaßen gilt, den Absatz der letzteren zu benachteiligen geeignet ist, ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen, soweit er verhindert, dass der niedrigere Gestehungspreis der eingeführten Waren sich im Preis für den Verkauf an den Verbraucher niederschlägt. Ebenso Streinz/Schroeder Art. 34 Rdnr. 65: Eine Preisregelung ist unzulässig, „wenn der sich aus dem niedrigeren Gestehungspreis ergebende Wettbewerbsvorteil (bei eingeführter Ware) neutralisiert wird.“ Da Gleiches auch für importierte alkoholische Getränke gilt, wird der Mindestpreis für Alkohol trotz seiner Einordnung als Verkaufsmodalität nicht von der Anwendung des Art. 34 AEUV freigestellt.

Zwischenergebnis zu Art. 34 AEUV: Der Mindestpreis für Alkohol ist ein unter Art. 34 AEUV fallendes und nach dieser Vorschrift untersagtes Handelshemmnis.

III. Die Einführung von Mindestpreisen für Alkohol könnte aber gerechtfertigt sein. Rechtfertigungsgrund kann in erster Linie Art. 36 AEUV sein, dessen Satz 1 eine Reihe von Schutzgütern aufführt, die die Einführung von Handelsbeschränkungen rechtfertigen können. Da einige wichtige Schutzgüter wie der Verbraucherschutz, Umweltschutz, Jugendschutz in Art. 36 nicht aufgeführt sind, wird die Vorschrift durch die ungeschriebene, sog. Cassis de Dijon-Formel (EuGH Slg. 1979, 649) ergänzt, wonach „zwingende Erfordernisse“ ebenfalls Beschränkungen rechtfertigen können. EuGH EuZW 2009, 173 („Keine Motorradanhänger in Italien“) [51] Ein als Handelshemmnis wirkendes Verbot kann durch einen der in Art. 36 AEUV aufgezählten Gründe des Gemeinwohls oder durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt sein (vgl. EuGH Slg. 2003, I‑6445, Randnr. 29; Slg. 2004, I‑1559, Randnr. 21). In beiden Fällen muss die nationale Maßnahme geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was dazu erforderlich ist… (Demgegenüber tritt Art. 36 Satz 2 AEUV hinter das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zurück und hat praktisch kaum eine Bedeutung.)

1. Nach Art. 36 Satz 1 AEUV sind Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen gestattet. Im Staat S hat der Alkoholkonsum stark zugenommen, was den Schluss rechtfertigt, dass größeren Kreise der Bevölkerung Krankheiten drohen, die von einem zu hohen Alkoholverbrauch ausgelöst werden, insbesondere Schädigungen innerer Organe wie Leber und Bauchspeicheldrüse, Vergiftungen der Muskeln und des Nervensystems. Diese Krankheitsfälle zu reduzieren ist eine Maßnahme zum Schutze der Gesundheit der Menschen. Da langdauernde schwere Vergiftungen mit Alkohol auch zum Tode führen können, dient die Bekämpfung eines steigenden Alkoholkonsums auch dem Schutze des Lebens von Menschen. EuGH [35] Somit ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren streitige Regelung das Ziel verfolgt, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, und damit ein Ziel, das unter den von Art. 36 AEUV geschützten Gütern und Interessen den ersten Rang einnimmt.

2. EuGH [28] Eine beschränkende Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren nach der streitigen nationalen Regelung vorgesehene, muss jedoch den sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen… Eine Normierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips enthält Art. 5 Abs. 4 und 5 EU-Vertrag (EUV). Diese bezieht sich aber auf das Handeln der Organe der EU, während es im vorliegenden Zusammenhang um vom Gesetzgeber eines EU-Mitgliedstaates eingeführte Mindestpreise geht. Auf diese Sachlage wendet der EuGH das Gebot der Verhältnismäßigkeit als allgemeines Prinzip mit demselben Inhalt an wie in Art. 5 Abs. 4 EUV formuliert. Entsprechend der dortigen Formulierung prüft er nur die Geeignetheit und die Erforderlichkeit, reichert die Erforderlichkeitsprüfung aber mit Überlegungen an, die nach deutschem Recht innerhalb der Angemessenheit geprüft würden (Hoffmann NJW 2016, 626). EuGH [33] Nach ständiger Rechtsprechung lässt sich eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung nur dann mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV rechtfertigen, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das dazu Erforderliche hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil ANETT, C‑456/10, EU:C:2012:241, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zwar formuliert der EuGH die Anforderung an die Geeignetheit dahin, dass die „Erreichung“ des verfolgten Ziels „gewährleistet“ sein muss, während nach deutschem Recht die Förderung des Ziels ausreicht. Es ist aber nicht ersichtlich, dass der EuGH in der Sache strengere Anforderungen als nach deutschem Recht stellt, wie sich auch aus der nachfolgenden Prüfung ergibt.

a) EuGH [36-39] Was die Frage betrifft, ob diese Regelung geeignet ist, das genannte Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, zu erreichen, so erscheint es…nicht unschlüssig, anzunehmen, dass eine Maßnahme, mit der ein Mindestpreis für alkoholische Getränke festgesetzt wird, der ganz speziell eine Anhebung des Preises für billige alkoholische Getränke bezweckt, geeignet ist, den Alkoholkonsum im Allgemeinen und den gefährlichen und schädigenden Konsum im Besonderen zu vermindern, da Personen mit einem entsprechenden Konsumverhalten in großem Umfang billige alkoholische Getränke kaufen… Die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung stellt sich folglich als zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet dar.

b) Die Mindestpreisregelung müsste auch erforderlich sein. Das ist nicht der Fall, wenn ein weniger belastendes Mittel zur Verfügung steht. Als alternatives Mittel, das ebenfalls zu einer Preiserhöhung führen würde, kommt, wie bereits im Sachverhalt angesprochen, die Erhöhung der vom Anbieter auf Alkohol zu zahlende Steuer in Betracht.

aa) Wird unter dem Aspekt der beiden Möglichkeiten - Mindestpreis oder Steuererhöhung - geprüft, ob die Steuererhöhung weniger belastend ist, muss zuvor geklärt werden, auf welche Art von Belastung es ankommt, d. h. welche Art von Belastung möglichst niedrig gehalten werden soll. Dabei ist nicht abzustellen auf die unmittelbaren Folgen beider Maßnahmen, die Preiserhöhung. Denn diese ist zum Zwecke des Gesundheitsschutzes erforderlich, ist deshalb gewollt und darf gerade nicht möglichst niedrig gehalten werden. Bei der möglichst gering zu haltenden Belastung könnte auf die Beschränkung des Wettbewerbs abzustellen sein. Ein möglichst freier Wettbewerb gehört zu den wesentlichen Elementen der Wirtschaftspolitik in der EU, wie sich aus Reihe von Vorschriften ergibt (Art. 119 I, 120 I AEUV: „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“) und auch den Art. 34, 36 AEUV zugrunde liegt. Ein wichtiges Mittel des Wettbewerbs ist die freie Gestaltung der Preise. Somit ist milderes Mittel dasjenige, das die Preisgestaltung als Mittel des Wettbewerbs am wenigsten beeinträchtigt.

bb) Wie bereits im Sachverhalt angesprochen und oben II 3 a und b cc ausgeführt wurde, bleibt im Falle einer Steuererhöhung der Kostenvorteil, den ein ausländischer Anbieter hat, erhalten und wirkt sich bei ihm als Wettbewerbsvorteil aus, während das bei der Mindestpreisregelung nicht der Fall ist. Die Steuererhöhung führt folglich zu einer geringeren Beeinträchtigung des Wettbewerbs. Außerdem hat die Steuererhöhung den Vorteil, dass sie dem Staat Einnahmen verschafft, die dieser für weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Alkoholsucht verwenden kann.

Kein relevantes Argument ist die im Sachverhalt angeführte B efürchtung des Gesetzgebers, dass ausländische Anbieter ihren Preisvorteil zur Absatzsteigerung nutzen könnten. Denn dem kann dadurch entgegen gewirkt werden, dass die Steuererhöhung hinreichend groß ist - wie auch der Mindestpreis eine ausreichende Höhe haben muss -; dass ausländische Anbieter einen Wettbewerbsvorteil behalten, reicht zur Befürchtung einer Absatzsteigerung nicht aus. Die weitere Begründung für den Mindestpreis, dadurch würden alle Anbieter gleich behandelt, ist ebenfalls nicht überzeugend, weil auch eine Steuererhöhung für alle Anbieter gleichmäßig erfolgen und daher alle Anbieter gleich behandeln würde. Das Ziel einer Vereinheitlichung der Endverkaufspreise ist im Binnenmarkt mit Preiswettbewerb kein für Mindestpreise sprechendes zulässiges Argument.

EuGH [44-46] Das Ziel, sicherzustellen, dass für alkoholische Getränke hohe Preise festgesetzt werden, kann in angemessener Weise durch ihre erhöhte Besteuerung verfolgt werden, da sich die Verbrauchsteuererhöhungen früher oder später in einer Erhöhung der Einzelhandelspreise niederschlagen müssen… Im Rahmen nationaler Maßnahmen, die den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen bezwecken, und unabhängig von den Eigenheiten des jeweiligen Erzeugnisses lässt sich bei alkoholischen Getränken ebenso wie bei Tabakwaren eine Preisanhebung durch eine erhöhte Besteuerung erreichen. Eine fiskalische Maßnahme, mit der die Steuern auf alkoholische Getränke erhöht werden, kann für den Handel mit diesen Waren innerhalb der Union weniger einschränkend sein als eine Maßnahme, mit der ein MPA vorgegeben wird. Denn die letztgenannte Maßnahme schränkt…im Gegensatz zu einer Erhöhung der auf diese Waren erhobenen Steuer die Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer, ihre Einzelhandelspreise zu bestimmen, erheblich ein und stellt infolgedessen ein ernsthaftes Hindernis für den Zugang alkoholhaltiger Getränke, die in anderen Mitgliedstaaten als dem Vereinigten Königreich rechtmäßig vertrieben werden, zum britischen Markt sowie für den freien Wettbewerb auf diesem Markt dar.

[53] Da ein Verbot, wie es sich aus der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung ergibt, eine Ausnahme vom Grundsatz des freien Warenverkehrs darstellt, haben die nationalen Behörden darzutun, dass diese Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, d. h., dass sie erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen, und dass sich das angestrebte Ziel nicht durch Verbote oder Beschränkungen erreichen ließe, die weniger weit gehen oder den Handel innerhalb der Union weniger beeinträchtigen würden (…). Andererseits ist auch zu berücksichtigen, dass den Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die zu treffenden Maßnahmen ein Beurteilungsspielraum zukommt (EuGH EuZW 2009, 173; Slg. 2004, I‑6569).

cc) Eine endgültige Antwort auf die Frage, ob Steuererhöhungen sachgemäßer und Mindestpreise deshalb unverhältnismäßig sind, hat der EuGH nicht gegeben, sondern hat es dem vorlegenden nationalen Gericht überlassen, unter Berücksichtigung der Argumente des EuGH diese Frage zu entscheiden. Die Ausführungen des EuGH deuten aber stark in die Richtung (vgl. Hoffmann NJW 2916, 626), so dass in dieser Fallbearbeitung den Überlegungen unter bb) gefolgt und eine Steuererhöhung als das mildere Mittel angesehen wird.

3. Folglich sind Mindestpreise für Alkohol im Vergleich zu Steuererhöhungen nicht erforderlich, sind unverhältnismäßig und nicht nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt. Die Fallfrage ist also dahin zu beantworten, dass staatlich festgelegte Mindestpreise für alkoholische Getränke nicht mit dem EU-Recht (Art. 34 AEUV) vereinbar sind.


Zusammenfassung