Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Verfassungsbeschwerde; Prüfungsgegenstand. Freies Mandat als grundrechtsgleiches Recht, Art. 38 I 2 GG.Befugnisse des Verfassungsschutzes; Schranken bei der Beobachtung von Abgeordneten.Verhältnismäßigkeit.

BVerfG
Urteil 17. 9. 2013 - 2 BvR 2436/10 - NVwZ 2013, 1468

Fall
(Fall Ramelow)

Das zum Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums gehörende Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat über längere Zeit einzelne Bundestagsabgeordnete, die der Fraktion DIE LINKE angehören, beobachtet. Zu ihnen gehört auch R. Dieser war ab Oktober 1999 Mitglied des Thüringer Landtags. Von Oktober 2005 bis September 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE. Seit Herbst 2009 ist er Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag. Mindestens seit 1999 führte das BfV eine Personenakte über R, in der es umfangreiche Informationen über die Tätigkeit des R in der Partei und über seine Abgeordnetentätigkeit erhob, jedoch ohne sein Abstimmungsverhalten und seine Äußerungen im Parlament und den Ausschüssen. In die Akte aufgenommen wurden nur Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen; R hat aber den Verdacht, dass gegen ihn auch mit geheimdienstlichen Mitteln ermittelt wurde.

Gegen das Urteil des BVerwG hat R form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben und diese unter anderem damit begründet, die „Bespitzelung“ beeinträchtige ihn bei der Ausübung seines Abgeordnetenmandats. Wie ist über die VfB zu entscheiden?

Aus dem Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVerfSchG).

§ 3 Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden

(1) Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über

1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung…gerichtet sind,…

§ 4 Begriffsbestimmungen

(1) Im Sinne dieses Gesetzes sind…

c) Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Für einen Personenzusammenschluss handelt, wer ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Voraussetzung für die Sammlung und Auswertung von Informationen im Sinne des § 3 Abs. 1 ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte…

(2) Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne dieses Gesetzes zählen: a) das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, b) die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, c) das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, e) die Unabhängigkeit der Gerichte, f) der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.

§ 8 Befugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz

(1) Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten erheben, verarbeiten und nutzen…

(5) Von mehreren geeigneten Maßnahmen hat das Bundesamt für Verfassungsschutz diejenige zu wählen, die den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf keinen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht.


A. Zulässigkeit der VfB

I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG).

1. Die Hoheitsakte, durch die R sich beeinträchtigt fühlt, sind die Überwachungsmaßnahmen des BfV. Nach der Logik des § 90 I BVerfGG sind sie der Hoheitsakt; das Urteil des BVerwG, das die Klage gegen sie abgewiesen hat, erfüllt das Gebot des § 90 II BVerfGG, den Rechtsweg auszuschöpfen.

2. Allerdings hat R die VfB ausdrücklich gegen das Urteil des BVerwG gerichtet. Dieses ist ebenfalls ein Hoheitsakt. Das BVerfG ist dem gefolgt und hat das Urteil des BVerwG als angegriffenen Hoheitsakt behandelt, somit eine Urteilsverfassungsbeschwerde angenommen. Dafür spricht, dass sich die eigentliche Begründung dafür, dass die Maßnahmen des BfV rechtmäßig seien, aus dem Urteil des BVerwG ergibt und diese in der VfB zu überprüfen ist.

3. Materiell bleiben aber die - vom BVerwG gebilligten - Überwachungsmaßnahmen des BfV Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung. Auch das BVerfG stellt unter [129, 130], obwohl es an dieser Stelle das Urteil des BVerwG behandelt, auf die „Beobachtung des Bf. durch das BfV einschließlich der Sammlung und Speicherung der dabei gewonnenen personenbezogenen Informationen“ ab. Deshalb sind die Maßnahmen des BfV der eigentliche Prüfungsgegenstand der VfB.

II. Der Beschwerdeführer muss geltend machen, in einem Grundrecht oder einem der in § 90 I BVerfGG gleichgestellten Rechte verletzt zu sein.

1. Wenn R geltend macht, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz beeinträchtige ihn bei der Ausübung seines Abgeordnetenmandats, könnte er eine Verletzung des Art. 38 I 2 GG geltend machen.

a) § 90 I BVerfGG führt ebenso wie Art. 93 I Nr. 4 a GG den Art. 38 GG als grundrechtsgleiches Recht auf. Allerdings sind damit jedenfalls in erster Linie die Rechte auf Teilnahme an der Bundestagswahl gemäß den Wahlgrundsätzen des Art. 38 I 1 gemeint. Das BVerfG sieht aber keinen Grund, Art. 38 I 2 davon auszunehmen. BVerfG [85]: Art. 38 GG ist von § 90 Abs. 1 BVerfGG insoweit mit umfasst, als diese Norm in ähnlicher Weise wie die übrigen Vorschriften des Grundgesetzes, in die sie eingereiht ist, Individualrechte garantiert. Dies geschieht nicht nur durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, sondern unter Umständen auch durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 108, 251, 266). Schon der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG spricht nicht dafür, dass das GG die Bedeutung der Rechte des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG durch Herausnahme dieser Vorschrift dadurch schmälern wollte, dass es die verfassungsrechtliche Kontrolle auf deren Wahrung nicht erstreckt (vgl. BVerfGE 108, 251,268).

b) Wie noch im Rahmen der Begründetheit genauer auszuführen ist, wird Art. 38 I 2 weit ausgelegt und umfasst grundsätzlich die gesamte, als freies Mandat bezeichnete Rechtsstellung des Abgeordneten. Zu dieser könnte auch das Recht gehören, nicht von einer Stelle der Exekutive systematisch beobachtet zu werden. R macht somit eine Verletzung eines grundrechtsgleichen Rechts geltend.

2. Allerdings würde die auf Schutz eines Individualrechts gerichtete VfB verdrängt, wenn R sein Recht ausschließlich im Wege eines Organstreitverfahrens (Art. 93 I Nr. 1 GG) geltend machen könnte.

a) BVerfG [84]: Nach der st. Rspr. des BVerfG kann ein Abgeordneter nicht im Wege der VfB um seine Abgeordnetenrechte mit einem Staatsorgan streiten (vgl. BVerfGE 32, 157,162;…99, 19, 29). Die VfB ist kein Mittel zur Austragung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Staatsorganen (…).

b) Jedoch betrifft die Streitigkeit des R nicht eine (vgl. Art. 93 I Nr. 1 GG) Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Vielmehr wendet R sich gegen die Tätigkeit des BfV und deren Billigung durch das BVerwG. BVerfG [86): Der Bf. behauptet eine Rechtsverletzung durch das von ihm angefochtene Urteil des BVerwG. Dieses Urteil betrifft nicht sein Verhältnis zu einem anderen Verfassungsorgan oder zu dessen Teilen, sondern sein Verhältnis zum Bundesamt für Verfassungsschutz als einer Bundesoberbehörde. Dies zugrundegelegt kann der Bf. sich nach dem Durchlaufen des Verwaltungsrechtswegs mit der VfB auf eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG berufen.

3. BVerfG [88]: Die VfB ist auch zulässig, soweit das mit ihr angefochtene Urteil des BVerwG den Zeitraum des Landtagsmandats des Bf. betrifft, weil nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Bf. in seinem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 GG verletzt ist.

III. R fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis dafür, sich auf sein Bundestagsmandat zu berufen, weil er inzwischen nicht mehr Bundestagsabgeordneter ist und in dieser Eigenschaft nicht mehr beobachtet wird. R hat auch heute noch ein berechtigtes Interesse daran, geklärt zu bekommen, ob die frühere Beobachtung rechtmäßig war und das Urteil des BVerwG verfassungsmäßig ist. BVerfG [87]: Das Rechtsschutzinteresse des Bf. für die Feststellung einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG durch das angefochtene Urteil des BVerwG besteht ungeachtet dessen, dass er bereits im September 2009 aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden ist und unabhängig davon, ob seine Beobachtung gegenwärtig noch fortdauert. Eine Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzinteresses (vgl. dazu BVerfGE 103, 44, 58 f.;…106, 210, 214) ist hierdurch nicht eingetreten, denn der Verwaltungsrechtsstreit betraf von vornherein auch den in der Vergangenheit liegenden Beobachtungszeitraum von Oktober 1999 bis zum 13. Februar 2009.

Die VfB ist zulässig.

B. Die VfB ist begründet, wenn die Beobachtung durch das BfV den R in seinem Recht aus Art. 38 I 2 GG verletzt. Dabei ergibt sich das Recht des R, soweit er Bundestagsabgeordneter war, allein aus dieser Vorschrift. Bei der Beobachtung als Landtagsabgeordneter muss zusätzlich Art. 28 I 1 und 2 GG herangezogen werden (vgl. bereits oben A II 3). Der dortigen Gewährleistung einer demokratischen Ordnung in den Ländern und einer entsprechenden „Vertretung“, d. h. eines Parlaments, ist zu entnehmen, dass auch den Landtagsabgeordneten ein freies Mandat zusteht.

I. Das in Art. 38 I 2 GG jedem BT-Abgeordneten zustehende Recht auf das freie Mandat ist ein ähnliches Recht wie ein Freiheits-Grundrecht, so dass dessen Verletzung ähnlich wie bei einem Freiheits-Grundrecht geprüft wird. Auf der ersten Prüfungsebene muss ein Schutzbereich vorliegen, in den eingegriffen worden ist.

1. Den durch das freie Mandat gewährleisteten Schutzbereich entwickelt das BVerfG unter [93 - 98] wie folgt:

a) Art. 38 I 2 schützt nicht nur den Bestand, sondern auch die tatsächliche Ausübung des Mandats (vgl. BVerfGE 80, 188, 218; 99, 19, 32; 118, 277, 324). Der Abgeordnete ist…Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger eines freien Mandats und, gemeinsam mit der Gesamtheit der Mitglieder des Parlaments, Vertreter des ganzen Volkes (…). Er hat einen repräsentativen Status inne, übt sein Mandat in Unabhängigkeit, frei von jeder Bindung an Aufträge und Weisungen, aus und ist nur seinem Gewissen unterworfen.

b) Der von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bezweckte Schutz der Willens- und Entscheidungsbildung der Mitglieder des Deutschen Bundestages setzt den Schutz der Kommunikationsbeziehung zwischen den Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern vor gezielter staatlicher Beeinflussung und staatlicher Abschreckung voraus. In der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes vollziehen sich die Willensbildung des Volkes und die Willensbildung in den Staatsorganen in einer kontinuierlichen und vielfältigen Wechselwirkung: Politisches Programm und Verhalten der Staatsorgane wirken unablässig auf die Willensbildung des Volkes ein und sind selbst Gegenstand der Meinungsbildung des Volkes… In dem Wechselspiel zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung hat der Abgeordnete – in ähnlicher Weise wie die politischen Parteien (vgl. BVerfGE 41, 399, 416 f.) – eine Transformationsfunktion (Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 135): Er sammelt und strukturiert die politischen Auffassungen und Interessen, die an ihn herangetragen werden, und entscheidet, ob, wie und mit welcher Priorität er sich bemüht, sie in staatliche Entscheidungen umzusetzen… Der kommunikative Prozess, bei dem der Abgeordnete nicht nur Informationen weitergibt, sondern auch Informationen empfängt, ist vom Schutz des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst.

c) Bei alledem ist der Gewährleistungsgehalt des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf das gesamte politische Handeln des Abgeordneten bezogen und umfasst nicht nur dessen Tätigkeit im parlamentarischen Bereich. Die Sphären des Abgeordneten „als Mandatsträger“, „als Parteimitglied“ sowie als politisch handelnder „Privatperson“ lassen sich nicht strikt trennen….

d) BVerfG [101]: Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG etabliert einen spezifischen Kontrollzusammenhang zwischen Bundestag und Bundesregierung als zentrales Bindeglied zwischen Gewaltenteilung und Demokratieprinzip (…). Dieser Kontrollzusammenhang geht von den gewählten Abgeordneten aus; er verläuft mit dem demokratischen Legitimationsstrang vom Deutschen Bundestag hin zur Bundesregierung, nicht hingegen umgekehrt von der Regierung zum Parlament. Während die Kontrolle von Regierung und Verwaltung zum Kernbereich der parlamentarischen Aufgaben gehört, das parlamentarische Regierungssystem mithin grundlegend durch die Kontrollfunktion des Parlaments geprägt ist (vgl. BVerfGE 67, 100, 130), wird das Parlament seinerseits durch andere Verfassungsorgane nicht in vergleichbarer Weise kontrolliert.

Ergebnis der Überlegungen unter a) bis d) ist: Art. 38 I 2 schützt die Kommunikationsbeziehungen zwischen Abgeordneten und Wahlvolk vor Störungen und den Abgeordneten vor einer Beaufsichtigung durch die Exekutive. Dieser Schutz stand auch R zu, zunächst während seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter.

e) Weiterhin ist zu prüfen, ob R dieser Schutz auch als Landtagsabgeordneter zusteht und ob er ihn durch VfB geltend machen kann. Dazu BVerfG [104 - 106]:

aa) Das GG geht von der grundsätzlichen Verfassungsautonomie der Länder aus (…); die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder stehen im föderativ gestalteten Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich selbständig nebeneinander (vgl. BVerfGE 103, 332, 350; 107, 1, 10). Jedoch handelt es sich bei der Gewährleistung einer von staatlicher Beeinflussung freien Kommunikationsbeziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern sowie der Freiheit des Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle um Grundbedingungen des freien Mandats…Sie gelten deshalb über Art. 28 I 1 GG auch im Verfassungsbereich der Länder.

bb) Allerdings sind Rechte, deren Geltung im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung der Länder durch Art. 28 Abs. 1 GG gewährleistet ist, nicht ohne Weiteres auch vor dem BVerfG einklagbar (vgl. BVerfGE 99, 1, 8, 11 ff.). Vielmehr müssen sie primär auf Landesebene geltend gemacht werden, insbesondere vor einem Landesverfassungsgericht. Etwas anderes gilt aber, wenn die Landesstaatsgewalt, einschließlich des Landesverfassungsgerichts, zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes des betreffenden Rechts aus prinzipiellen Gründen, die in der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes angelegt sind, nicht in der Lage ist. Dies ist hier der Fall, weil eine Verletzung des Rechts durch die Entscheidung eines Bundesgerichts in Rede steht. Auch kann kraft Landesstaatsgewalt nicht auf das BfV als Bundesbehörde eingewirkt werden. Somit kann R auch das ihm als Landtagsabgeordneten zustehende Recht auf ungestörte Kommunikation mit dem Wahlvolk und auf Freiheit vor exekutiver Beobachtung im Wege der VfB geltend machen.

2. In das beschriebene Recht müsste ein Eingriff erfolgt sein. BVerfG [107 - 109]: Gewährleistet Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nach alledem die freie, von staatlicher Beeinflussung unberührte Kommunikationsbeziehung des Abgeordneten mit den Wählerinnen und Wählern und damit auch die Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beaufsichtigung und Kontrolle, so stellt bereits die systematische Sammlung und Auswertung öffentlich zugänglicher – ohne den Einsatz von Methoden der heimlichen Beschaffung erlangter – Informationen über den Abgeordneten einen Eingriff in das freie Mandat dar (vgl. BVerfGE 120, 378, 398 f. m. w. N.)… Ferner beeinträchtigt die Sammlung von Informationen über einen Abgeordneten dessen freie Mandatsausübung, weil die hiermit verbundene Stigmatisierung Wählerinnen und Wähler von einer Kontaktaufnahme und von eigener inhaltlicher Auseinandersetzung mit seinen politischen Tätigkeiten und denen seiner Partei und Fraktion abhalten und damit die von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Kommunikationsbeziehung mit den Bürgern nachteilig beeinflussen kann. Die bloße Möglichkeit einer staatlichen Registrierung von Kontakten kann eine abschreckende Wirkung entfalten und schon im Vorfeld zu Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen führen. Dazu verweist das BVerfG auf entsprechende Überlegungen im Zusammenhang mit Volkszählung und informationeller Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1, 43) sowie im Zusammenhang mit einem Eingriff in die Pressefreiheit durch die Erwähnung eines Presseorgans im Verfassungsschutzbericht (BVerfGE 113, 63, 78). Ferner liegt auch in der Möglichkeit eines Abschreckungseffekts ein Eingriff in das Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 124, 161, 195; anders noch BVerfGE 40, 287, 292 f.). Die Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes stellt schließlich auch deshalb einen Eingriff in die Freiheit des Abgeordnetenmandats dar, weil damit der im GG vorgesehene typische Kontrollzusammenhang zwischen Legislative und Exekutive umgekehrt wird.

II. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.

1. Hierfür bedarf es einer Rechtfertigungsgrundlage.

a) Zwar verweist Art. 38 III GG auf ein Gesetz. Wenn dieses aber „das Nähere“ regeln soll, bezieht sich das zunächst auf die Wahl des Bundestages, für die Art. 38 I 1 nur die Grundprinzipien regelt. Dagegen spricht diese Formulierung nicht dafür, dass dadurch Eingriffe in das freie Mandat zugelassen werden sollen. Das BVerfG lässt die Frage offen und löst über immanente Schranken des Art. 38 I 2.

b) BVerfG [111 - 113]: Die Freiheit des Mandats ist nicht schrankenlos gewährleistet. Sie kann durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt werden… Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann ein Grund für die zulässige Beschränkung…sein. In der Rspr. des BVerfG ist anerkannt, dass eine Beschränkung von Freiheitsrechten zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zulässig sein kann, weil das Grundgesetz sich für eine streitbare Demokratie entschieden hat (vgl. BVerfGE 5, 85, 137 ff.;… 30, 1, 19 ff.). Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das GG gewährt, die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 GG). Die Sammlung von Unterlagen zum Zwecke des Verfassungsschutzes lässt das GG ausdrücklich zu, indem es die Gesetzgebungskompetenz hierfür regelt und die Schaffung von Behörden ermöglicht, die diese Aufgabe wahrnehmen (Art. 73 Nr. 10 b i. V. m. Art. 70 Abs. 1 GG, Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG).

2. Eine Beschränkung des freien Mandats im konkreten Fall, hier dem Fall des R, ist noch nicht auf der Grundlage der Überlegungen unter b) zulässig, sondern bedarf eines Gesetzes. Da das BVerfG offen lässt, ob sich das aus Art. 38 III ergibt, wendet es das Prinzip vom Gesetzesvorbehalt an, [126]: Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Regelung durch Parlamentsgesetz folgt jedenfalls aus dem Vorbehalt des Gesetzes, wie er durch die Wesentlichkeitsdoktrin des BVerfG ausgeformt worden ist. Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (folgen umfangreiche Nachweise).

a) Gesetz im vorliegenden Fall ist das BVerfSchG. Es ist auch verfassungsmäßig. Die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers folgt aus Art. 73 Nr. 10 b GG. In materieller Hinsicht folgt die Vereinbarkeit mit Art. 38 I 2 daraus, dass es mit den Grundsätzen oben 1 b) übereinstimmt. BVerfG [133 - 135]: …§ 8 Abs. 1 Satz 1 und § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG stellen eine dem Vorbehalt des Gesetzes genügende Rechtsgrundlage für die Beobachtung des Bf. dar, auch wenn darin nicht ausdrücklich auf die Rechte der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Bezug genommen wird. Die wesentliche Entscheidung, ob Mitglieder des Deutschen Bundestages der Beobachtung durch das BfV unterzogen werden dürfen, hat der Gesetzgeber mit diesen Vorschriften selbst getroffen und sie bejaht. Zugleich hat er auch über die wesentlichen Voraussetzungen einer solchen Beobachtung entschieden, und zwar dahingehend, dass für die Beobachtung von Abgeordneten die gleichen tatbestandlichen Voraussetzungen gelten wie für die Beobachtung von Privatpersonen. Es war bei Erlass des BVerfSchG allgemein bekannt, dass auch Abgeordnete beobachtet wurden… Der besonderen Schutzwürdigkeit von Abgeordneten hat der Gesetzgeber ausreichend Rechnung getragen, indem § 8 Abs. 5 BVerfSchG die einfachgesetzliche Anordnung enthält, dass die Beobachtung verhältnismäßig sein muss…. Die Befugnisnorm in § 8 BVerfSchG ermöglicht und verlangt folglich die Berücksichtigung aller betroffenen Belange und damit auch der Tatsache, dass die Tätigkeit der beobachteten Person dem besonderen Schutz des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG unterliegt.

b) Normalerweise müsste an dieser Stelle geprüft werden, ob die Voraussetzungen des § 8 I BVerfSchG vorliegen, dass also deren Bejahung durch das BVerwG zutreffend ist. Die sonst bei Urteilsverfassungsbeschwerden eingreifende Beschränkung auf spezifische Verfassungsverletzungen kommt hier nicht zur Anwendung, weil die Art. 38 I 2 und die Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung betreffenden Überlegungen durchweg spezifische Verfassungsfragen betreffen.

Die Voraussetzungen des § 8 I verweisen mit der Formulierung „zur Erfüllung seiner Aufgaben“ auf § 3 I Nr. 1 und dieser verweist wiederum mit „Bestrebungen, die gegen die freie demokratische Grundordnung…gerichtet sind“ auf § 4 I c). Dort kommt wegen der Tätigkeit des R für eine Partei die Regelung über den Personenzusammenschluss zur Anwendung. Somit müssen tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass DIE LINKE bestrebt ist, einen der in § 4 II BVerfSchG genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen, und dass R sie in diesen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Jedoch ist weder bei R persönlich noch bei der Partei festgestellt, dass Anhaltspunkte für die genannten Bestrebungen bestehen. Sie bestehen möglicherweise bei bestimmten Gruppierungen. R gehört aber nicht zu diesen und unterstützt diese auch nicht, jedenfalls nicht nachdrücklich. Danach liegen die Voraussetzungen des § 8 BVerfSchG nicht vor; der Eingriff in Art. 38 I 2 wäre schon deshalb nicht gerechtfertigt. Allerdings hat das BVerfG diese Prüfung nicht vorgenommen, sondern den Fall über die Verhältnismäßigkeit gelöst (unten 4.).

3. Art. 46 GG wird durch die Maßnahmen des BfV nicht verletzt. Art. 46 II (Immunität) greift nicht ein, weil dieser nur die Verfolgung wegen Straftaten betrifft. Art. 46 I (Indemnität) ist nach BVerfG [124] zwar einschlägig: Der Schutz des Art. 46 Abs. 1 GG erstreckt sich auch auf Maßnahmen der Verfassungsschutzbehörden… Der gegen ein weites Normverständnis gerichtete Einwand, die Beobachtung durch Behörden des Verfassungsschutzes habe keinen Sanktionscharakter, weil sie keine unmittelbaren Folgen nach sich ziehe (vgl. Löwer, in: Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutz. Bestandsaufnahme und Perspektiven, 1998, S. 240, 259), vermag nicht zu überzeugen. Jedoch hat das BfV diese Beschränkung beachtet und Abstimmungen und Äu­ße­run­gen des R im Parlament und den Ausschüs­sen von der Beobachtung ausgenommen.

4. Die Beobachtung durch das BfV könnte das Gebot zur Verhältnismäßigkeit (§ 8 V BVerfSchG) verletzen.

a) BVerfG [118 - 124]: Der Eingriff in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, der in der Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes liegt, unterliegt strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass nur das Notwendige zum Schutz eines von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes – hier: der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – im Gesetz vorgesehen und im Einzelfall angeordnet werden darf…. Zudem darf die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen (…). Danach ist die Beobachtung eines Abgeordneten durch Verfassungsschutzbehörden nur dann zulässig, wenn sie erforderlich ist und die Abwägung im Einzelfall ergibt, dass dem Interesse am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Vorrang vor den Rechten des betroffenen Abgeordneten gebührt. Ein Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft.

b) Zweck der Beobachtung des R war der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; dieser ist legitim, zu seiner Verfolgung ist die Informationssammlung geeignet. Beim Sammeln der Informationen ist das BfV auch, soweit ersichtlich, nicht über das notwendige Maß hinausgegangen. Mildere Maßnahmen als das Sammeln der Informationen standen dem BfV nicht zur Verfügung.

c) Wie oben a) ausgeführt, ist die Beobachtung des R nur angemessen, wenn das Interesse am Schutz der freiheitlichen demokratischen Ordnung so gewichtig ist, dass es Vorrang vor dem Recht des betroffenen Abgeordneten hat. Da die langjährige Beobachtung ein schwerer Eingriff ist, kann sie nur durch eine erhebliche Gefahr für die freiheitliche demokratische Ordnung gerechtfertigt werden.

aa) BVerfG [137 - 140]: Im fachgerichtlichen Verfahren wurden tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen lediglich in Bezug auf einzelne Untergliederungen – namentlich die Kommunistische Plattform… – festgestellt… Zugleich wurde ausdrücklich festgestellt, dass der Bf. individuell nicht verdächtig ist, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen… Der Bf. gehört weder zu den Angehörigen noch zu den Unterstützern der betreffenden Untergliederungen… Von dem Bf. selbst geht folglich auch unter Einbeziehung seines Verhältnisses zu der Partei DIE LINKE und den dort vorhandenen Strömungen kein relevanter Beitrag für eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus.

bb) [141]: Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist die Annahme des BVerwG, die Tätigkeit des Bf. sei dennoch objektiv geeignet, die verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu unterstützen; gefährlich für die freiheitliche demokratische Grundordnung könnten auch Personen sein, die selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stünden, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfassungsfeindliche Bestrebungen förderten… Das BVerwG verkennt insoweit, dass nach der Wertung von Art. 21 GG - der den Parteien eine wesentliche Rolle für die politische Willensbildung des Volkes in der demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes zuweist (…) - ein parteipolitisches Engagement, das seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Dies gilt auch und gerade dann, wenn es in einer Partei stattfindet, in der unterschiedliche Kräfte und Strömungen miteinander um Einfluss ringen.

cc) Hinzu kommt, dass das BfV nur allgemein zugängliche Informationen sammelt und diese deshalb nur geringe zusätzliche Erkenntnisse bringen. [142]: Nach alledem stellt sich der vom BVerwG angenommene Gewinn an geringfügigen zusätzlichen Erkenntnissen für die Ermittlung eines umfassenden Bildes… im Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in das freie Mandat des Beschwerdeführers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG als nachrangig dar.

Folglich ist der Eingriff in das Recht am freien Mandat nicht angemessen und unverhältnismäßig.

III. BVerfG [144]: Ob das angegriffene Urteil des BVerwG darüber hinaus die vom Bf. ebenfalls als verletzt gerügten Grundrechte und sonstigen Rechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 GG), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie das Recht auf chancengleiche Teilnahme an Parlamentswahlen verletzt, oder ob diese Rechte bereits tatbestandlich nicht einschlägig sind, weil sie zu den Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in einem Verhältnis wechselseitiger Ausschließlichkeit stehen (…), kann offenbleiben. Bereits die Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung.

IV. Entsprechend § 95 II BVerfGG lautet der Tenor des BVerfG-Urteils: Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010 - BVerwG 6 C 22.09 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 28 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das BVerwG zurückverwiesen. Das BVerwG wird daraufhin die Revision gegen das Urteil des OVG Münster, das die Rechtswidrigkeit der Beobachtung des R festgestellt hatte, zurückweisen. (Am 14. 3. 2014 hat das Bundesinnenministerium mitgeteilt, dass zukünftig Bundestagsabgeordnete nicht mehr überwacht werden.)


Zusammenfassung