Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

VfB gegen RechtsVO. Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 II BVerfGG) und Subsidiaritätsprinzip. Rechtsschutz gegenüber RechtsVO durch verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage, § 43 VwGO

 BVerfG Beschluss vom 18. 10. 2004 (1 BvR 2057/02) NVwZ 2005, 79

 Fall (Käfighühner vor dem BVerfG)

In die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung des Bundes (TSchNutzVO) wurden im Jahre 2002 (BGBl 2002 Teil I, 1026) Vorschriften eingefügt, wonach die Käfighaltung von Legehennen künftig grundsätzlich nicht mehr zulässig ist (§ 13), allerdings erst nach längeren Übergangsfristen (§ 17 III, IV; endgültiges Ende danach: 31. 12. 2011). Die Beschwerdeführer in dem VfB-Verfahren (B) sind Inhaber von Betrieben, in denen Hühner in Käfigen der in den letzten Jahrzehnten üblich gewordenen Art der Massentierhaltung gehalten werden. Sie sehen in den Beschränkungen der TSchNutzVO einen unzulässigen Eingriff in ihr Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12 GG) und haben fristgemäß Verfassungsbeschwerde erhoben. Ist diese zulässig ? Steht B eine andere Möglichkeit des Rechtsschutzes zur Verfügung ?

A. Zulässigkeit der VfB (§§ 90 ff. BVerfGG)

I. Angreifbarer Hoheitsakt i. S. des § 90 I sind §§ 13, 17 TSchNutzVO, die als RechtsVO einen Hoheitsakt darstellen.

II. B können geltend machen, durch die RechtsVO in ihrem Grundrecht aus Art. 12 I GG verletzt zu sein, so dass ihnen die Beschwerdebefugnis zusteht.

III. Vor Erhebung der VfB muss der Rechtsweg erschöpft sein (§ 90 II 1). Die Anwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall hat zur Voraussetzung, dass gegenüber der TSchNutzVO ein Rechtsweg zur Verfügung steht.

1. Ein Normenkontrollverfahren nach § 47 I Nr. 2 VwGO setzt eine landesrechtliche Zulassung voraus und kann sich nur gegen Landesrecht richten, nicht gegen Bundesrecht. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine RechtsVO des Bundesrechts. § 47 I Nr. 2 scheidet somit aus. Eine ausdrücklich geregelte Rechtsschutzmöglichkeit gegenüber einer RechtsVO des Bundesrechts (oder einer RechtsVO oder Satzung des Landesrechts in den Ländern, die von der Zulassungsermächtigung des § 47 I Nr. 2 keinen Gebrauch gemacht haben) gibt es nicht. Danach könnte den B das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung nicht entgegengehalten werden.

2. Jedoch hat das BVerfG aus der Regelung des § 90 II BVerfGG den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der VfB entwickelt.

a) BVerfG S. 79 unter 1: Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass ein Beschwerdeführer auch dann, wenn kein fachgerichtlicher Rechtsweg unmittelbar gegen eine Norm selbst eröffnet ist, zunächst versuchen muss, Rechtsschutz durch Anrufung der Fachgerichte zu erlangen (vgl. BVerfGE 68, 319 [325 f.];…97, 157 [165]). Dabei hat ein Beschwerdeführer alle diejenigen Rechtsbehelfe einzulegen, die nicht offensichtlich unzulässig sind (vgl. BVerfGE 376 [379 ff.]).

b) Als Rechtsbehelf, der die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer bundesrechtlichen RechtsVO ermöglicht, kommt insbesondere eine Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten in Betracht, mit welcher die Feststellung begehrt wird, dass ein zwischen Kläger und Hoheitsträger bestehendes Rechtsverhältnis von der für nichtig gehaltenen RechtsVO nicht bestimmt wird. Das BVerwG hält derartige Feststellungsklagen ausdrücklich für zulässig (vgl. BVerwGE 111, 276 [278] = JurTel 2003 Heft 12 S. 260, Klage gegen die Festsetzung von Flugrouten durch RechtsVO).

aa) Nicht ausreichend für eine Feststellungsklage gegen eine RechtsVO ist allerdings die bloße Behauptung, dass eine RechtsVO (oder Satzung) rechtswidrig, verfassungswidrig oder aus sonstigen Gründen nicht wirksam ist. Vielmehr muss ein konkretes Rechtsverhältnis im Streit sein, das über die bloße Gültigkeitsfrage hinausgeht. Im vorliegenden Fall geht von den Vorschriften der TSchNutzVO die Rechtsfolge aus, dass B spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist die bisherige Käfighaltung nicht mehr betreiben dürfen und, wenn sie weiterhin Legehennen halten, die neuen Haltungsbedingungen (§ 13 Absätze 2 bis 9) einzuhalten haben. Ein solches Verbot und Gebot löst ein konkretes Rechtsverhältnis aus.

bb) Allerdings gelten diese Verbote und Gebote derzeit noch nicht. BVerfG S. 79 unter 1: Auch eine Feststellungsklage, die ein zukünftiges Rechtsverhältnis betrifft, ist nicht offensichtlich unzulässig. Zukünftige Rechtsverhältnisse werden als feststellungsfähig angesehen, wenn sie bereits hinreichend konkretisiert, also die maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen schon gelegt sind (vgl. Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Sept. 2003, § 43 Rdnr. 21). Die Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen in einer Konstellation wie der vorliegenden gegeben sind, in der bestehende Betriebe neuen rechtlichen Anforderungen unterworfen werden, die nach einer Übergangsfrist in Kraft treten, obliegt den Verwaltungsgerichten.

Da B bisher keine Feststellungsklage erhoben haben, steht der VfB grundsätzlich das Prinzip der Subsidiarität entgegen.

3. Das BVerfG erörtert noch, ob eine vorzeitige Entscheidung des BVerfG nach § 90 II 2 BVerfGG in Betracht kommt, verneint das aber (S. 79 unter 2). Zwar seien von der TSchNutzVO eine Vielzahl von Betrieben betroffen, woraus sich der Bedarf nach einer baldigen generellen Entscheidung ergeben könnte. Andererseits besteht angesichts der langen Übergangsfrist für die Betroffenen ohne weiteres die Möglichkeit, rechtzeitig verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Da die Verwaltungsgerichte die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsverordnungen selbst überprüfen können [hier gilt nicht das auf formelle Gesetze beschränkte Verwerfungsmonopol des BVerfG gemäß Art. 100 GG], verlängert sich die Verfahrensdauer auch nicht um ein Vorlageverfahren nach Art. 100 I GG. Zudem können in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren die tatsächlichen Fragen geklärt werden, welche das Vorbringen der Bf. aufwirft, etwa hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Belastung durch die Neuregelung oder hinsichtlich der Möglichkeit, bestehende Anlagen weiterhin zu nutzen.

Somit ist eine VfB nicht zulässig.

B. Der Rechtsschutz, der B zur Verfügung steht, ist die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage (oben A III 2b). Der weitestgehende Antrag geht auf die Feststellung, dass B berechtigt sind, auch künftig ihre Betriebe in herkömmlicher Käfighaltung zu betreiben. Zusätzlich könnte ein weniger weitgehender (Hilfs-) Antrag gestellt werden. Die Entscheidung hängt davon ab, ob die TSchNutzVO ganz oder teilweise verfassungswidrig ist.

Dies dürfte allerdings zu verneinen sein: Nach Art. 12 I 2 GG darf die Berufsausübung durch Gesetz beschränkt werden. Darunter fällt auch eine gemäß Art. 80 GG auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhende RechtsVO. Sie muss verhältnismäßig sein, was sich prinzipiell mit dem in Art. 20a GG enthaltenen Gebot zum Tierschutz und der daraus folgenden Verpflichtung zu einer artgerechten Tierhaltung begründen lässt.

Ob es sich hierbei noch um eine prinzipale Normenkontrolle (vgl. die Einleitung vor dem Fall) handelt, ist zweifelhaft: Genau genommen wird die Rechtswirksamkeit der RechtsVO als Vorfrage vor der Entscheidung über das Bestehen des Rechtsverhältnisses geprüft, so dass es sich um eine Inzident-Prüfung handelt; dem entspricht, dass die Frage der Rechtswirksamkeit der RechtsVO nicht in den Tenor der Entscheidung aufgenommen wird, sondern nur in den Gründen erscheint. Der Sache nach hängt die Entscheidung über das Rechtsverhältnis aber so eng mit der Wirksamkeit der RechtsVO zusammen, dass das Verfahren einer prinzipalen Normenkontrolle gleichkommt.

Zusammenfassung

 

Ergänzende Hinweise:

1. Bei einer VfB gegen ein formelles Gesetz entfällt das Gebot zur Ausschöpfung des Rechtsweges, weil es einen solchen nicht gibt (vgl. § 93 III BVerfGG). Statt dessen muss der Beschwerdeführer geltend machen, dass er durch das Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist (z. B. BVerfGE 91, 294, 305). Im Fall BVerfG NVwZ 2004, 977 wandte sich eine Futtermittelherstellerin dagegen, dass durch das Gesetz zur Bekämpfung der Tierseuche BSE das Verfüttern von Tiermehl verboten wurde, so dass nach Auffassung der Beschwerdeführerin die bereits hergestellte Ware dadurch wertlos geworden sei. Das BVerfG bezweifelte zunächst, dass die Bf. selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen war. Zusätzlich stellte es auf den Grundsatz der Subsidiarität ab und entschied in diesem Ausnahmefall, in dem es wesentlich um die Umsetzung von EU-Recht ging und um die übergangsweise Verwendung bereits vorhandener Ware, in gleicher Weise wie in obigem Fall:

a) BVerfG S. 978/9 unter 2: In der Rspr. des BVerfG ist geklärt, dass die VfB eines von der angegriffenen Rechtsnorm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffenen Grundrechtsträgers dann unzulässig ist, wenn er in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch Anrufung der Gerichte erlangen kann… Damit soll erreicht werden, dass das BVerfG nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weit reichende Entscheidungen trifft (vgl. BVerfGE 79, 1 [20]). Ein Verweis auf den Rechtsweg ist besonders dann geboten, wenn das angegriffene Gesetz den Gerichten Entscheidungsspielräume belässt, die für die Frage seiner Verfassungsmäßigkeit Gewicht erlangen können (vgl. BVerfGE 71, 25 [34 f.]; 97, 157 [165]). Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt allerdings nicht, dass ein Betroffener vor Erhebung der VfB gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm verstößt und dann erst im Straf- oder Bußgeldverfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend machen kann (vgl. BVerfGE 81, 70 [82 f.]; 97, 157 [165]). Eine Pflicht zur Beschreitung des Rechtswegs zu den zunächst zuständigen Gerichten besteht auch dann ausnahmsweise nicht, wenn die angegriffene Regelung den Bf. zu Dispositionen zwingt, die später nicht mehr korrigiert werden können… Ein solcher Fall lag hier nicht vor.

b) Im vorliegenden Fall verweist das BVerfG ebenso wie in obigem Fall NVwZ 2005, 79 auf eine vor den Verwaltungsgerichten zu erhebende Feststellungsklage mit dem Ziel, festzustellen, dass die Bf. weiterhin berechtigt ist, die vor In-Kraft-Treten des in § 2 VerfVerbrG geregelten Verbringungs- und Ausfuhrverbots ausgeübten unternehmerischen Tätigkeiten fortzuführen… Zwar wären die Verwaltungsgerichte mit Blick auf Art. 100 I GG gehindert, die mit der VfB angegriffene Vorschrift des § 2 VerfVerbrG selbst für verfassungswidrig zu erklären [insoweit liegt der Fall anders als bei einer RechtsVO]. Indes könnten bei der Rechtsanwendung durch die sachnäheren Fachgerichte auf Grund deren besonderen Sachverstands möglicherweise für die verfassungsrechtliche Prüfung erhebliche Tatsachen zu Tage gefördert und damit dem Grundsatz der Subsidiarität der VfB gedient werden… Die VfB wurde deshalb als unzulässig nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Auch für eine Klage auf Erlass einer RechtsVO oder Satzung (Normerlassklage) ist nach der Rspr. des BVerwG die Feststellungsklage die richtige Klageart, weil sie dem Normgeber den nötigen Spielraum lässt; hierzu BVerwG NVwZ 2002, 1505 = JurTel 2003, 262; vgl. Köller/Haller JuS 2004, 189.