Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

► „Recht auf Vergessenwerden“. Europäische Grundrechte (GRCh) als Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde. Urteilsverfassungsbeschwerde. Grundrechtsanwendung in privatrechtlicher Streitigkeit. Durch EU-Recht vereinheitlichter Datenschutz. GRCh: Art. 7 (Privatleben), 8 (Datenschutz), 11 (Medienfreiheit), 16 (unternehmerische Freiheit). Löschungsanspruch nach Art. 17 DSGVO

BVerfG
Beschluss vom 6.11.2019 (1 BvR 276/17) NVwZ 2020, 63 unter Einbeziehung von 1 BvR 16/13 NVwZ 2020, 53

Fall (Recht auf Vergessen)

Anfang des Jahre 2016 lief im ARD-Fernsehmagazin Panorama ein Beitrag des NDR mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“. In diesem wurde der Fall eines gekündigten Mitarbeiters der Firma F, deren Geschäftsführerin B ist, kritisch dargestellt. Zur Sendung gehörte auch ein Interview mit B. Anschließend wurde der Beitrag vom NDR auf seiner Internetseite eingestellt. Seitdem wurde, wenn der Name der B in die Suchmaske des Suchmaschinenbetreibers Google (G) eingegeben wird, als Suchergebnis die Verlinkung auf diesen Beitrag angezeigt. B verlangte von G (Google Deutschland), die Anzeige dieses Links zu unterlassen (dessen „Auslistung“). G lehnte das ab. Die von B gegen G erhobene Klage vor den Zivilgerichten wurde im Jahre 2020 vom zuständigen OLG abgewiesen. Zur Begründung führte das Urteil aus, das namensbezogene Auffinden und Verweisen auf den Beitrag des NDR mit dem Interview der B sei eine Datenverarbeitung durch G, die die Persönlichkeitssphäre der B beeinträchtige. Ihr gegenüber mache B ein Recht auf Vergessenwerden nach Art. 17 Datenschutz-Grundverordnung EU (DSGVO) geltend; jedoch liege keiner der für ein Löschen erforderlichen Gründe des Art. 17 I DSGVO vor. Auch bei einer Abwägung der Grundrechte der B einerseits mit denen des G, des NDR und der Internetnutzer andererseits überwiege das Recht der B nicht. Der ursprüngliche Beitrag sei rechtmäßig gewesen und falle unter die Medienfreiheit. Die Bezeichnung der Arbeitgeber und damit auch der B als „fies“ reiche nicht aus, um die Sendung als Schmähkritik vom Grundrechtsschutz auszunehmen. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts der B sei nicht schwerwiegend, auch weil sie sich durch das Interview freiwillig der Öffentlichkeit gestellt habe. Der Zeitablauf sei bei dem Recht auf Vergessen zwar grundsätzlich bedeutsam, doch bestehe nach vier Jahren noch ein öffentliches Interesse an dem Beitrag.

Da gegenüber dem OLG-Urteil ein weiteres Rechtsmittel nicht zulässig ist, hat B formell fehlerfrei Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben und die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts und ihres Rechts auf Datenschutz gerügt. Sie werde durch die Verbindung des - negativ gefassten - Sendungstitels mit ihrem Namen dauerhaft stigmatisiert, so dass ihrem Persönlichkeitsrecht spätestens nach mehr als vier Jahren seit der Sendung Vorrang zukomme. G hält die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig. Er verweist darauf, dass d ie Frage, auf welche personenbezogenen Daten eine Suchmaschine durch Links verweisen darf, in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt und dass dieser Bereich vom EU-Recht voll vereinheitlicht ist (Vollharmonisierung). Deshalb kämen deutsche Grundrechte nicht zur Anwendung, und die Anwendung der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) falle nicht in die Kompetenz des BVerfG. Wie wird das BVerfG entscheiden?

Lösung

Vorbemerkungen: Der hier gestellte Fall ist „Recht auf Vergessen II“. An einigen Stellen in die Lösung einbezogen wird BVerfG AZ 16/13 „Recht auf Vergessen I“. Dabei handelte es um einen Fall, in dem T, der Bf. der VfB, im Jahre 1982 wegen Mordes auf der Segelyacht Apollonia verurteilt und 2002 nach verbüßter Strafe entlassen worden war. SPIEGEL-Online stellte Beiträge über den Fall unter Namensnennung des T ins Onlinearchiv. Als die Beiträge 2012 noch auffindbar waren, klagte T auf Unterlassung; der BGH wies die Klage ab. – Besprechungen der Fälle sind: Kühling NJW 2020, 275; Kämmerer/Kotzur NVwZ 2020, 177; Hoffmann NVwZ 2020, 33; Muckel JA 2020, 233 und 237; Sachs JuS 2020, 282 und 284; Sajuntz NJW 2020, 586/7.

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)

I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG; Beschwerdegegenstand).

1. Das Urteil des OLG ist ein mit der VfB angreifbarer Hoheitsakt. Auch Gerichte üben öffentliche Gewalt i. S. der § 90 I BVerfGG, Art. 93 I Nr. 4 a GG aus und können Grundrechte verletzen, da nach Art. 1 III GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden sind. BVerfG [30] Die VfB, mit der sich B gegen das klageabweisende Zivilurteil des OLG wendet, ist als Urteilsverfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG statthaft.

2. Ohne Bedeutung für den Beschwerdegegenstand ist, dass B sich letztlich gegen das Verhalten des Suchmaschinenbetreibers G richtet und dass dieser nicht hoheitlich handelt. Denn dessen Verhalten wurde durch das OLG-Urteil gebilligt, so dass diese in hoheitlicher Form erfolgte Billigung der richtige Beschwerdegegenstand ist. Allerdings kommt es bei der weiteren Behandlung, insbesondere für die Frage der Grundrechtsanwendung, wesentlich auf den der VfB vorausgegangenen privatrechtlichen Rechtsstreit zwischen B und G an.

II. Der Beschwerdeführer muss behaupten, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG; Beschwerdebefugnis). Hierfür ist ausreichend, dass eine Grundrechtsverletzung als möglich erscheint. In der hier gegebenen Situation wäre sie aber nicht möglich, sondern ausgeschlossen, wenn der Rechtsstreit sich nach EU-Recht richten würde und in solchem Falle die den Prüfungsmaßstab für das BVerfG bildenden Grundrechte nicht anwendbar wären. (Hiermit wird das Hauptproblem des Falles angesprochen und dem BVerfG in Recht auf Vergessen II [29-82] gefolgt, das diese Frage bereits innerhalb der Zulässigkeit geprüft hat; dagegen hat das BVerfG in Recht auf Vergessen I [41-74] das Verhältnis zwischen den Grundrechten des GG und denen der GRCh innerhalb der Begründetheit geprüft.)

1. Ergeht ein deutscher Hoheitsakt in Ausführung deutschen Rechts, sind die Grundrechte des GG anwendbar. Ergeht er zur Durchführung von EU-Recht, gilt die Charta der Grundrechte der EU (Art. 51 I 1 GRCh: sie gilt „für die Mitgliedstaaten…bei der Durchführung des Rechts der Union“). Weiterhin gibt es den Fall, dass ein Hoheitsakt unmittelbar in Ausführung deutschen Rechts ergeht, das aber zur Umsetzung von EU-Recht erlassen wurde und durch dieses determiniert ist. Weil dadurch mittelbar EU-Recht zur Anwendung kommt, ergeben sich Einschränkungen bei der Anwendung der Grundrechte des GG und bei der Prüfungskompetenz des BVerfG. Denn die Überprüfung des EU-Rechts ist primär Aufgabe des EuGH (vgl. Art. 258-280 AEUV). In dieser Situation ist zu unterscheiden.

a) Hat das EU-Recht dem nationalen Gesetzgeber einen Spielraum bei der Umsetzung gelassen und fällt der Fall in diesen Bereich, bleibt es bei der Anwendung der Grundrechte des GG und bei der Prüfungskompetenz des BVerfG. Denn soweit das EU-Recht nicht bindet, bleibt die Verantwortung für die Beachtung von Grundrechten bei der deutschen Staatsgewalt. BVerfG I [42-45] Das BVerfG prüft innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des GG, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Das ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.… Die Beachtung der Grundrechte bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung haben die deutschen Gerichte und insbesondere das BVerfG zu gewährleisten. Das schließt nicht aus, dass daneben im Einzelfall auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Geltung beanspruchen kann.… Auch soweit Unionsgrundrechte gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh zu denen des GG hinzutreten, übt das BVerfG seine Prüfungskompetenz primär am Maßstab des GG aus.

Dementsprechend führt das BVerfG im Fall Recht auf Vergessen I (VfB des T wegen der gegen SPIEGEL-Online abgewiesenen Klage auf Löschung) aus, [39]: Die VfB ist unabhängig davon zulässig, ob die für den Rechtsstreit maßgeblichen Regelungen mit Blick auf die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) als Durchführung des Unionsrechts zu beurteilen sind und deshalb neben den Grundrechten des GG möglicherweise zugleich die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Geltung beansprucht (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh). Denn jedenfalls fällt die hier umstrittene Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken in den Bereich des sogenannten Medienprivilegs. Für dessen Ausgestaltung steht den Mitgliedstaaten nach Art. 85 Abs. 2 DSGVO ein Umsetzungsspielraum zu. Auf Bundesebene ist davon durch § 63 des Gesetzes über die Deutsche Welle Gebrauch gemacht worden (vgl. Art. 41 des 2. Datenschutzanpassungsgesetzes, Kühling NJW 2020, 276 Fn. 16). Im Übrigen gelten die allgemeinen Vorschriften über Unterlassungsansprüche (§§ 1004 I 2, 823 BGB; Sajuntz NJW 2020, 586). Folglich handelt es sich nicht um die Anwendung von vollständig determiniertem Unionsrecht. In solchen Fällen steht das Unionsrecht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde von vornherein nicht entgegen (vgl. BVerfGE 121, 1, 15; 125, 260, 306 f.; st. Rspr). Das gilt auch dann, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass Unionsgrundrechte für den Einzelfall anwendbar sind und sich daraus zu beachtende Anforderungen ergeben. Solchen ist im Rahmen der materiellen Prüfung Rechnung zu tragen.

BVerfG im Recht auf Vergessen I [74] Von diesen Grundsätzen ausgehend steht außer Zweifel, dass der vorliegende Rechtsstreit nach den Grundrechten des GG zu beurteilen ist. Der Rechtsstreit richtet sich nach §§ 823, 1004 BGB analog. Zwar befindet er sich dabei im Anwendungsbereich des Unionsrechts, der DSGVO. Jedoch fällt die Anwendung der Vorschriften vorliegend in einen Regelungsbereich, für den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum einräumt (vgl. Art. 85 DSGVO). … Unabhängig davon, ob die Ausgestaltung und Anwendung innerstaatlichen Rechts im Rahmen des Medienprivilegs zugleich als Durchführung des Unionsrechts gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh zu beurteilen ist und damit ergänzend auch die Grundrechte der Charta anwendbar sind, prüft das BVerfG daher den Rechtsstreit primär am Maßstab der Grundrechte des GG. (zustimmend Kämmerer/Kotzur NVwZ 2020, 179)

b) Anders zu entscheiden ist, wenn der nationale Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum hat. Hierzu ist auf den Ausgangsfall Recht auf Vergessen II zurückzukommen. Im Rechtsstreit der B gegen G greift das Medienprivileg nicht ein. BVerfG [36] Die Frage, welche personenbezogenen Daten eine Suchmaschine auf Suchabfragen durch Bereitstellung eines Links nachweisen darf, … fällt nicht in den Bereich des Medienprivilegs… Die insoweit in Frage stehende Datenverarbeitung durch den Suchmaschinenbetreiber ist nicht als Datenverarbeitung zu journalistischen Zwecken im Sinne dieser Vorschrift anzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain, Rn. 85; vgl. auch noch unten B II 1 b).

aa) Es handelt sich also um eine nicht privilegierte Datenverarbeitung, die, w ie G zutreffend vorträgt, sich nach der DSGVO richtet. In dieser ist insbesondere das Recht auf Vergessenwerden geregelt (Art. 17); dementsprechend hat das OLG im Rechtsstreit der B gegen G Art. 17 DSGVO geprüft.

bb) Bei der DSGVO ergibt sich aus der Wahl der Verordnungsform als unmittelbar geltendes Recht (Art. 288 II AEUV) und aus den Erwägungsgründen 10, 13 zur DSGVO, dass damit der Datenschutz durch EU-Recht vollständig vereinheitlicht wird (Vollharmonisierung; Hoffmann NVwZ 2020, 35; Kühling NJW 2020, 276). Die Mitgliedstaaten dürfen nur dort Regelungen treffen, wo die DSGVO nicht anwendbar ist (Art. 2 II DSGVO) oder wo sie zu Abweichungen ermächtigt werden (Art. 85-91). Dazu führt BVerfG [44] nach Bezugnahme auf das früher geltende Recht aus: Von einer vollständigen Vereinheitlichung ist erst recht für die aktuelle Rechtslage unter Geltung der DSGVO auszugehen… Mit ihr hat die EU in der Rechtsform der Verordnung in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares Recht geschaffen, um so der verbliebenen unterschiedlichen Handhabung des Datenschutzrechts in den Mitgliedstaaten wirksamer entgegenzutreten und dem Anspruch eines unionsweit gleichwertigen Datenschutzes Nachdruck zu verleihen. [39] Auch nach der Rspr. des EuGH sind die Datenschutzregelungen des europäischen Rechts inhaltlich unbedingt, abschließend und erschöpfend und müssen in der Union gleichmäßig angewendet werden. Die Mitgliedstaaten dürfen deren Anforderungen weder unter- noch überschreiten (m. Nachw.).

cc) Wird, wie im vorliegenden Fall, durch Anwendung der DSGVO abschließend geregeltes EU-Recht durchgeführt, gelten die Grundrechte des GG nicht; es gelten die Grundrechte der GRCh (Art. 51 I 1 GRCh).

BVerfG [43, 44] Dass in vollvereinheitlichten Materien des Unionsrechts die deutschen Grundrechte nicht anwendbar sind, entspricht…ständiger Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 73, 339, 387…129, 186, 199). Nichts anderes gilt für deren konkretisierende Anwendung [durch Urteil des OLG]. Die Anwendung der Unionsgrundrechte ist Konsequenz der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Wenn die Union im Rahmen dieser Befugnisse Regelungen schafft, die in der gesamten Union gelten und einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein. Diesen Grundrechtsschutz gewährleistet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. [47] Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte als Kontrollmaßstab beruht auf der Anerkennung eines Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (vgl. BVerfGE 123, 267, 398 ff.;… 140, 317, 335 ff. Rn. 37 ff. m. w. N.) und lässt die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes unberührt. Sie bleiben dahinterliegend ruhend in Kraft. Deshalb steht der Vorrang der GRCh-Grundrechte unter dem Vorbehalt, dass diese einen wirksamen Schutz gewährleisten, was derzeit aber der Fall ist (BVerfG [47, 48]). Auch die beiden anderen Vorbehalte durch Ultra-vires-Kontrolle und Wahrung der Verfassungsidentität (BVerfG [49]) sind im Anwendungsbereich der Grundrechte nicht einschlägig.

2. Da somit die Grundrechte des GG in diesem Fall nicht gelten, könnten die Grundrechte der GRCh Prüfungsmaßstab bei der VfB sein.

a) Dafür bestünde allerdings kein Bedarf, wenn es beim EuGH ein Verfahren gäbe, das eine ähnliche Funktion wie die VfB in Deutschland hat. Das ist aber nicht der Fall. Art. 288 ff. AEUV enthalten kein Verfahren, in dem eine Privatperson den EuGH zwecks Prüfung einer Grundrechtsverletzung durch das Gericht eines Mitgliedstaates anrufen kann. Die in Art. 263 IV AEUV vorgesehene Direktklage kann sich nur gegen Hoheitsakte der EU-Organe richten, nicht gegen das Urteil eines deutschen OLG. BVerfG [61] Eine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch ein mitgliedstaatliches Fachgericht unmittelbar vor dem EuGH geltend zu machen, besteht nicht.

b) Gleichwohl ging bis zu dem hier behandelten Beschluss des BVerfG die allgemeine Meinung dahin, dass im VfB-Verfahren EU-Grundrechte nicht geltend gemacht werden können (Sachs JuS 2020, 284; vgl. auch BVerfG [51, 52]). Danach gäbe es kein Verfahren, mit dem sich B gegen eine Verletzung ihrer Grundrechte durch das Urteil des OLG wenden könnte, was das BVerfG als Rechtsschutzlücke erkannt hat (BVerfG [61]). Als Konsequenz hat das BVerfG im vorliegenden Fall eine Grundsatzentscheidung dahin getroffen, dass bei einer VfB gegen ein Urteil eines deutschen Fachgerichts auf einem voll harmonisierten Rechtsbereich auch die Grundrechte der GRCh Prüfungsmaßstab sein können (von Sachs JuS 2020, 284 als „Paukenschlag“ bezeichnet, von Kühling NJW 2020, 275 als „Novemberrevolution“). Da das BVerfG nach Art. 93 I Nr. 4 a GG, § 90 I BVerfGG die Verletzung von „Grundrechten“ zu überprüfen hat und dabei keine ausdrückliche Beschränkung auf die Grundrechte des GG erfolgt, widerspricht die Einbeziehung der GRCh-Grundrechte nicht dem Wortlaut dieser Vorschriften (Kühling NJW 2020, 277).

BVerfG [57-67] Es obliegt dem BVerfG, bei seiner Kontrolle der Rechtsprechung der Fachgerichte erforderlichenfalls auch die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen. Die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes gehört zu den zentralen Aufgaben des BVerfG. Seinen Ausdruck findet das vor allem in der Urteilsverfassungsbeschwerde als der die Arbeit des Gerichts in besonderer Weise prägenden Verfahrensart. Die Verfassungsbeschwerde ist bewusst weit und umfassend konzipiert: Beschwerdeberechtigt und -befugt ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG jede Person, die behauptet, in ihren Grundrechten verletzt zu sein, und Gegenstand einer VfB kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. Dem Anspruch nach bietet die VfB so einen umfassenden Grundrechtsschutz gegenüber der gesamten deutschen Staatsgewalt in allen ihren Ausprägungen.

Auch die Unionsgrundrechte gehören heute zu dem gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsschutz. Sie sind nach Maßgabe des Art. 51 Abs. 1 GRCh innerstaatlich anwendbar und bilden zu den Grundrechten des GG ein Funktionsäquivalent. Eingebettet in einen ausformulierten Grundrechtskatalog haben sie ihrem Inhalt und normativen Anspruch nach für das Unionsrecht und dessen Auslegung heute eine weitgehend gleiche Funktion wie die deutschen Grundrechte für das Recht unter dem GG: Sie dienen in ihrem Anwendungsbereich dem Schutz der Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und beanspruchen - gegebenenfalls auch gerichtlich durchzusetzenden - Vorrang vor jeder Art unionsrechtlichen Handelns, unabhängig von dessen Rechtsform und der hierfür verantwortlichen Stelle…

Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechte zum Prüfungsmaßstab nimmt. Würde es sich hier aus dem Grundrechtsschutz herausziehen, könnte es diese Aufgabe mit zunehmender Verdichtung des Unionsrechts immer weniger wahrnehmen.…

Eine Einbeziehung der Unionsgrundrechte verbietet auch nicht der Wortlaut der Verfassung, insbesondere nicht Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Zwar hat diese Vorschrift trotz ihrer offenen Formulierung von ihrer Entstehungsgeschichte her nur die Grundrechte des GG im Blick. Jedoch folgt aus der dem BVerfG nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG aufgetragenen Mitwirkung an der Anwendung von Unionsrecht im Rahmen der hiermit verbundenen Integrationsverantwortung zugleich, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG insoweit auf Rügen einer Verletzung von Rechten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entsprechend Anwendung findet. Soweit das BVerfG in früheren Entscheidungen…verallgemeinernd ausgeführt hat, dass gemeinschaftsrechtlich begründete Rechte nicht zu den Grundrechten gehören, die mit der VfB verteidigt werden können, wird hieran…nicht festgehalten.

c) BVerfG [68-70] Soweit das BVerfG Grundrechte der Grundrechtecharta als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH aus. Nach Art. 19 Abs. 1 UA 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV liegt die Zuständigkeit für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts beim EuGH. Hierzu gehören auch die Auslegung der Grundrechte der Charta und die Entwicklung der aus ihnen abzuleitenden Grundsätze für deren Anwendung. Demgegenüber betrifft die Prüfungskompetenz des BVerfG die richtige Anwendung der Unionsgrundrechte. Es ist insoweit innerstaatlich letztentscheidende Instanz im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV und demnach ggfs. vorlageverpflichtet (…). Eine Anwendung der Unionsgrundrechte kommt deshalb nur in Betracht, wenn der EuGH deren Auslegung bereits geklärt hat oder die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze aus sich heraus offenkundig sind… Andernfalls sind die Fragen dem EuGH vorzulegen.

(Den Ausführungen unter II 1 und 2 zufolge bilden die GG-Grundrechte und die GRCh-Grundrechte zusammen mit den Grundrechten der EMRK ein „Mehrebenensystem der Grundrechte in Europa“, vgl. Sachs JuS 2020, 282 und 284.)

3. Im vorliegenden Fall kann B also eine Verletzung ihrer Grundrechte nach der GRCh geltend machen. In Betracht kommt das Grundrecht aus Art. 7 GRCh auf Achtung ihres Privatlebens und aus Art. 8 GRCh auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten. Beide Grundrechte können zusammengeprüft werden. BVerfG [99] Die Gewährleistungen der Art. 7 und Art. 8 GRCh sind eng aufeinander bezogen. Jedenfalls soweit es um die Verarbeitung personenbezogener Daten geht, bilden diese beiden Grundrechte eine einheitliche Schutzverbürgung. [83, 84] Mit ihrem Vorbringen hat B hinreichend dargelegt, dass sie durch die angegriffene Entscheidung in ihren Grundrechten auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten nach diesen Vorschriften verletzt sein kann… Sie macht geltend, dass sie durch die Bereitstellung des streitigen Links durch den Suchmaschinenbetreiber bei namensbezogenen Suchabfragen bis tief in ihr Privatleben hinein in der Gestaltung ihrer sozialen Kontakte beeinträchtigt sei… Dass sie insoweit die Grundrechte des GG und nicht die Grundrechte der Charta genannt hat, ist unschädlich. Wird nur die falsche Norm benannt, aber in der Sache substantiiert vorgetragen, wird die VfB nicht unzulässig. Die richtige Rechtsanwendung ist vielmehr Aufgabe des BVerfG. B ist beschwerdebefugt i. S. des § 90 I BVerfGG.

III. Die nach § 90 II 1 BVerfGG notwendige Rechtswegerschöpfung ergibt sich aus der Feststellung im Sachverhalt, dass gegenüber dem Urteil des OLG kein weiteres Rechtsmittel zulässig ist. Die VfB wurde formell fehlerfrei erhoben. Sie ist zulässig.

B. Begründet ist die VfB, wenn B durch das Urteil des OLG in Art. 7, 8 GRCh - sie sind zusammen zu prüfen, vgl. oben A II 3 - verletzt ist.

I. Die VfB richtet sich gegen ein Gerichtsurteil in einem Zivilrechtsstreit. Dadurch könnten für die Begründetheitsprüfung Besonderheiten gelten.

1. In erster Linie richten sich Grundrechte gegen den Staat, haben aber auch Rechtswirkungen zwischen Privaten.

a) BVerfG [96, 97] Wie die Grundrechte des GG gewährleisten auch die Grundrechte der Charta nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten (vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2008, Promusicae, C-275/06; Urteil vom 29. Juli 2019, Spiegel Online, C-516/17; … ). Dies gilt insbesondere für die Art. 7, Art. 8 GRCh, die der EuGH, unabhängig von der Rechtsnatur der zugrundeliegenden Streitigkeit, wiederholt für die Auslegung des unionsrechtlichen Fachrechts herangezogen hat. Dem entspricht auch das Verständnis von Art. 8 EMRK, der in st. Rspr. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gerade auch in Streitigkeiten zwischen Privaten zur Geltung gebracht wird… Eine Lehre von der mittelbaren Drittwirkung, wie sie das deutsche Recht kennt (vgl. BVerfG Recht auf Vergessen I Rn. 76 f.; Ruffert JuS 2020, 1 ff), wird der Auslegung des Unionsrechts dabei nicht zugrunde gelegt. Im Ergebnis kommt den Unionsgrundrechten für das Verhältnis zwischen Privaten jedoch eine ähnliche Wirkung zu. Die Grundrechte der Charta können einzelfallbezogen in das Privatrecht hineinwirken. Sie haben Ausstrahlungswirkung auf das Zivilrecht.

b) Das Hineinwirken durch Ausstrahlung bedeutet, dass die Grundrechte insbesondere die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln steuern. Im vorliegenden Fall könnten das die in Art. 17 I DSGVO verwendeten Rechtsbegriffe „unrechtmäßig verarbeitet“ (Nr. 4) oder „in Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung“ (Nr. 5) sein. Einzubeziehen sind auch die Grundrechte des anderen an der privatrechtlichen Beziehung Beteiligten, im vorliegenden Fall des G, so dass zwischen den Grundrechten der B und des G eine Abwägung zu erfolgen hat. Darüber hinaus sind bei der Klage gegen einen Suchmaschinenbetreiber auch die Rechte und Interessen des Inhalteanbieters (NDR) und die der Internetnutzer einzubeziehen (BVerfG [96, 106-110]). Neben der Abwägung kommt das sonst übliche Prüfungsschema nach Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung nicht zur Anwendung.

2. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden überprüft das BVerfG nicht die Anwendung einfachen Rechts, im vorliegenden die des Art. 17 DSGVO, sondern nur verfassungsspezifische Verletzungen (BVerfG [111]). Im vorliegenden Fall ist das das Hineinwirken der GRCh-Grundrechte, die „spezifisches Verfassungsrecht“ sind (Kühling NJW 2020, 277) bzw. „Quasi-Verfassungsrang“ haben (Hoffmann NVwZ 2020, 36). Die übliche Formulierung findet sich bei BVerfG [134], wonach zu prüfen ist, ob das zu überprüfende Urteil eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Grundrechte erkennen lässt.
II. Diese Prüfung ist im Hinblick auf das OLG-Urteil vorzunehmen.

1. Folgende Grundrechte sind in die Abwägung einzustellen.

a) Auf Seiten der B sind es Art. 7, 8 GRCh. BVerfG [99-101] Art. 7 GRCh begründet das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie der Kommunikation, Art. 8 GRCh das Recht auf Schutz personenbezogener Daten… Danach ist das Recht auf Achtung des Privatlebens nicht eng zu verstehen und beschränkt sich insbesondere nicht auf höchstpersönliche oder besonders sensible Sachverhalte (…) Insbesondere wird die geschäftliche und berufliche Tätigkeit hiervon nicht ausgeschlossen… Art. 7, Art. 8 GRCh schützen damit die selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung gegenüber der Datenverarbeitung Dritter. Diese Rechte sind dadurch beeinträchtigt, dass die Suchmaschinenanzeige auf die Fernsehsendung verweist, in der B ein „fieser Trick“ vorgeworfen und sie damit negativ beurteilt wird.

b) BVerfG [102-110] Auf Seiten des Suchmaschinenbetreibers ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh einzustellen. Dagegen kann G sich nicht auf die Freiheit der Meinungsäußerung aus Art. 11 GRCh berufen. Zwar sind die von ihm angebotenen Suchdienste und die von ihm hierfür verwendeten Mittel zur Aufbereitung der Suchergebnisse nicht inhaltsneutral, sondern können auf die Meinungsbildung der Nutzer erheblichen Einfluss ausüben. Jedoch bezwecken diese Dienste nicht die Verbreitung bestimmter Meinungen.… Sie sind allein darauf ausgerichtet, potentielle Interessen der Nutzer unabhängig von bestimmten Meinungen möglichst weitgehend zu befriedigen und so seine Dienstleistung im wirtschaftlichen Interesse des Unternehmens möglichst attraktiv zu gestalten. Einzustellen sind aber die Grundrechte der Inhalteanbieter, um deren Veröffentlichung es geht. Das ist hier das Recht des NDR auf Meinungs- und Medienfreiheit aus Art. 11 I 1, II GRCh. Schließlich gehören in die Abwägung auch die Zugangsinteressen der Internetnutzer… Insoweit stehen allerdings nicht individuelle Rechte der Nutzerinnen und Nutzer aus Art. 11 I 2 GRCh auf Informationszugang zu der konkret betroffenen Internetseite in Frage, sondern die Informationsfreiheit als im Wege der Abwägung zu berücksichtigendes Prinzip…

c) Da laut Sachverhalt das OLG-Urteil die Grundrechte der B, des G, des NDR und der Internetnutzer herangezogen hat, ist davon auszugehen, dass es die vorgenannten Grundrechte in die Abwägung eingestellt hat. Sollte es dabei statt der GRCh-Grundrechte die entsprechenden Grundrechte des GG zitiert haben, wäre das unschädlich (vgl. bereits oben A II 3), auch weil ihr Inhalt weitgehend gleich ist (dazu BVerfG in Recht auf Vergessen I [60-62] und in Recht auf Vergessen II [47, 48]).

2. Was die Abwägung selbst betrifft, lässt sich den im Sachverhalt wiedergegebenen Urteilsgründen entnehmen, dass das OLG den Grundrechten der Charta hinreichend Rechnung getragen und zwischen ihnen einen vertretbaren Ausgleich gefunden hat. Es hat ein grundsätzliches Recht auf Vergessenwerden anerkannt und nach Abwägung mit den Rechten des G, des NDR und der Öffentlichkeit in vertretbarer Weise entschieden, dass ein Zeitablauf von vier Jahren nicht ausreicht, um einen Anspruch auf Löschen zu bejahen. (Im Originalfall wurde sogar nach sieben Jahren noch kein Löschungsanspruch bejaht, vgl. BVerfG [134]).

Die dahingehende Begründung des BVerfG beginnt unter [112-122] mit allgemeinen Grundsätzen für die Fachgerichte, wie über einen Unterlassungs- oder Löschungsanspruch gegen einen Suchmaschinenbetreiber grundrechtskonform zu entscheiden ist. [120]: Für die Beurteilung des Schutzbegehrens gegenüber einem Suchmaschinenbetreiber kommt es auf eine umfassende Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechte der durch den Nachweis betroffenen Person und des Suchmaschinenbetreibers an, einschließlich der Grundrechte des Inhalteanbieters und des Informationsinteresses der Öffentlichkeit. Dabei ist das Gewicht allein der wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers grundsätzlich nicht hinreichend schwer, um den Schutzanspruch Betroffener zu beschränken. Eine Grundrechtsabwägung hat auch zu erfolgen, wenn sich der Anspruch gegen einen Inhalteanbieter richtet (wie im Fall Recht auf Vergessenwerden I), wobei das Ergebnis aber nicht das gleiche ist wie beim Suchmaschinenbetreiber. [113] Denn einen Suchmaschinenbetreiber trifft eine Pflicht zur Auslistung nur nach dem Grundsatz des „notice and take down“, also nach Erhalt eines entsprechenden Auslistungsbegehrens. Anders als ein Inhalteanbieter beim Einstellen seines Beitrags in das Netz ist der Suchmaschinenbetreiber nicht von sich aus zur Prüfung des Inhalts verpflichtet (vgl. BGHZ 217, 350, 361 f. Rn. 34). Auch materiell gelten verschiedene Haftungsvoraussetzungen, wie sie vom BGH in Anknüpfung an die - das Haftungsrecht auch sonst durchziehende - Unterscheidung der mittelbaren und der unmittelbaren Störerhaftung entwickelt wurden…

Unter [127-134] überprüft das BVerfG dann das OLG-Urteil wie folgt: Zu Recht stellt das OLG zunächst auf die Kriterien ab, die für die Zulässigkeit der Ausstrahlung des im Streit stehenden Beitrags des NDR und dessen weitere Bereitstellung im Netz gegenüber B entscheidend sind. Danach war der Beitrag rechtmäßig und durfte ins Netz gestellt werden. Tragfähig legt das OLG dar, dass es sich bei dem Beitrag über die praktische Wirksamkeit des Kündigungsschutzes um ein Thema von allgemeinem Interesse handelt. Der Beitrag bezieht sich auf ein in die Gesellschaft hineinwirkendes Verhalten der B und des von ihr geführten Unternehmens [betrifft also die Sozialsphäre der B], nicht aber allein auf ihr Privatleben, und ist im Hinblick hierauf durch ein noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt… Auch konnte das OLG darauf abstellen, dass B zu dem Interview, das Gegenstand des streitigen Beitrags war, ihre Zustimmung gegeben hatte… Zu Recht beurteilt die angegriffene Entscheidung den Bericht und den hierauf verweisenden Link nicht als Schmähung… Das ist nur der Fall, wenn es ohne Sachbezug allein um die Verunglimpfung der Person geht (vgl. BVerfGE 93, 266, 294). Davon kann hier keine Rede sein… Das OLG hat auch den Zeitfaktor in seine Abwägung eingestellt und geprüft, ob die Weiterverbreitung des Beitrags unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit noch gerechtfertigt ist… Letztlich sieht es einen Anspruch auf Auslistung als jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben an… Diese Ausführungen lassen eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Grundrechte nicht erkennen und sind als fachrechtlich vertretbar vom BVerfG nicht zu beanstanden.

Ergebnis: Das Urteil des OLG ist ohne Grundrechtsverstoß zu dem Ergebnis gekommen, dass die Grundrechte des G, des NDR und der Internetnutzer ein höheres Gewicht haben als die der B, so dass die Grundrechte der B aus Art. 7, 8 GRCh nicht verletzt sind. Die VfB ist zwar zulässig, aber unbegründet und wird zurückgewiesen.

Ergänzende Hinweise: In dem anderen Fall „Recht auf Vergessen I“ (NVwZ 2020, 53), der oben punktuell einbezogen wurde, hat sich ein früher wegen Mordes verurteilter Bf. gegen Beiträge über ihn in SPIEGEL-Online, einem Inhalteanbieter, gewandt. Das BVerfG hat in Anwendung der GG-Grundrechte dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 I i. V. mit Art. 2 I GG) ein grundsätzliches Recht auf Vergessenwerden entnommen und die vom BGH vorgenommene Abwägung mit dem Recht des SPIEGEL auf Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 I 1, 2 GG) überprüft. Diese Prüfung hat zu dem Ergebnis geführt, dass der BGH nicht ausreichend der Frage nachgegangen ist, ob sich die Veröffentlichungen nach über 30 Jahren seit Begehung der Tat und nach der vom Bf. verbüßten Haftstrafe noch rechtfertigen lassen, und dass der BGH auch das Verhalten des Bf. seit seiner Haftentlassung nicht ausreichend gewürdigt hat. Die VfB hatte deshalb Erfolg. – Eine ähnliche Fallgestaltung lag dem Urteil des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) NJW 2020, 295 zugrunde. Zwei wegen Mordes (Mordfall Sedlmayer) Verurteilte, die inzwischen aus der Strafhaft entlassen waren, wandten sich dagegen, dass Berichte mit Namensnennung noch 15 Jahre nach der Tat von Medien im Internet zugänglich gemacht wurden. Der BGH hatte ihre Klage abgewiesen. Dagegen richtete sich ihre Beschwerde vor dem EGMR wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Abzuwägen waren einerseits Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) der Bf., andererseits Art. 10 EMRK (Meinungsfreiheit) der Medienbetreiber. Der EGMR hat die Abwägung des BGH gebilligt und die Beschwerde abgewiesen.


Zusammenfassung