Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV; richtige Vorlagefrage. Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV; Eingriff durch nationales Werbeverbot. Rechtfertigung eines Eingriffs durch ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel; Gesundheitsschutz. Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs

EuGH
Urteil vom 4. 5. 2017 (C-339/15) BeckRS 2017, 108629

Fall (Keine Zahnarztwerbung in Belgien)

V ist belgischer Staatsbürger und zugelassener Zahnarzt in der belgischen Stadt S. Er behandelt auch Patienten aus dem nahen EU-Ausland. Er bemüht sich um eine Erweiterung seines Patientenkreises und hat zu diesem Zweck auf der Straße vor seiner Praxis eine Stele mit drei bedruckten Seiten aufgestellt. Auf jeder Seite sind sein Name, seine Eigenschaft als Zahnarzt, die Adresse der Praxis und die seiner Website sowie die Telefonnummer seiner Praxis angegeben. Auf seiner Website informiert er über die verschiedenen Arten von Behandlungen, die er in seiner Praxis anbietet. In der lokalen Tageszeitung hat er einige Anzeigen geschaltet.

Art. 1 des belgischen Gesetzes über die Werbung in Sachen Zahnbehandlung (ZWerbeG) bestimmt: „Niemand darf mittelbar oder unmittelbar in der Absicht werben, in Belgien oder im Ausland Erkrankungen, Verletzungen oder Anomalien im Bereich des Mundes und der Zähne zu behandeln oder durch qualifizierte oder nicht qualifizierte Personen behandeln zu lassen. Untersagt sind insbesondere Schaufensterauslagen, Aushängeschilder, Aufschriften, Prospekte, Rundschreiben, Flugblätter und Broschüren, Werbung über die Presse, im Rundfunk oder im Kino.“ Eine Verletzung der Vorschrift ist strafbar. Begründet wurde das Gesetz damit, eine intensive Werbung könne dazu führen, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit nicht mehr den notwendigen absoluten Vorrang habe. Die Auswahl des Zahnarztes dürfe sich nur am Aspekt der Gesundheit orientieren und nicht an dem durch eine Werbung bekundeten Verdienstinteresse des Zahnarztes in Konkurrenz mit anderen. Auch verstoße es gegen die Würde des Zahnarztberufs, durch Werbung finanzielle Interessen herauszustellen.

Nach diesem Gesetz erhob die zuständige Staatsanwaltschaft Anklage gegen V vor dem Strafgericht in Brüssel. V verteidigt sich damit, seine Werbung sei zurückhaltend und sachlich und sei, zumindest soweit sie sich an mögliche Patienten aus den EU-Nachbarstaaten richtet, nach EU-Recht erlaubt. Dem hält die Staatsanwaltschaft entgegen, die Werbung spiele sich ganz vorwiegend im belgischen Inland ab, so dass für sie das belgische Recht gelte. Das Strafgericht stellte sich auf den Standpunkt, im Falle eines Verstoßes gegen EU-Recht sei das ZWerbeG gegenüber V nicht anwendbar, und legte dem EuGH die Frage vor, ob EU-Recht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der Zahnärzten eine Werbung so wie nach dem ZWerbeG verboten wird. Wie wird der EuGH entscheiden? Es ist davon auszugehen, dass sekundäres EU-Recht nicht anwendbar ist.

Lösung

A. Zulässigkeit der Vorlage des Strafgerichts an den EuGH

Es könnte sich um ein nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zulässiges Vorabentscheidungsverfahren handeln.

I. Hierfür muss das vorlegende Gericht vorlageberechtigt sein. Vorlageberechtigt sind die nationalen Gerichte. Nach Art. 267 II AEUV kann ein Instanzgericht eine Frage dem EuGH vorlegen, während nach Art. 167 III AEUV ein letztinstanzliches Gericht im Falle einer vorlagefähigen Frage zu der Vorlage verpflichtet ist. Unterbleibt die gebotene Vorlage, wird der dadurch benachteiligten Partei der gesetzliche Richter (Art. 101 I 2 GG) entzogen, was zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG berechtigen kann (BVerfG NJW 2016, 3153 52, Freizeitbad). Das belgische Strafgericht war nach Art. 267 II AEUV als Instanzgericht zur Vorlage berechtigt.

II. Es muss es sich um eine vorlagefähige Frage handeln.

1. Vorlagefähig sind nach Art. 267 I a) AEUV Fragen nach der Auslegung der Verträge (EUV und AEUV, primäres EU-Recht) und des sekundären EU-Rechts sowie nach b) AEUV Fragen nach der Gültigkeit und der Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union.

Im vorliegenden Fall könnte die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV anwendbar sein und sich auf die Befugnis der Zahnärzte erstrecken, für ihre Tätigkeit zu werben; dann würde ein Ausschluss der Befugnis zu werben gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen. Ob das der Fall ist, ist eine Frage der Auslegung des Art. 56 und der nachfolgenden Vorschriften. Im Originalfall hatte das belgische Strafgericht auch die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV mit einbezogen, hatte mehrere Frage gestellt und die entscheidende Frage wie folgt formuliert (vgl. EuGH [20]): Sind die Art. 49 und 56 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegenstehen, mit der zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ein vollständiges Werbeverbot für die zahnmedizinische Versorgung auferlegt wird? Die im Sachverhalt wiedergegebene Vorlagefrage stimmt mit dieser Fragefassung sinngemäß überein.

Für die Rechtspraxis nützlicher wäre allerdings, wenn dem EuGH die - letztlich entscheidende - Frage vorgelegt werden könnte, ob das ZWerbeG gegen EU-Recht verstößt und deshalb unanwendbar ist. Jedoch beschränkt sich die Aufgabe des EuGH nach Art. 267 I a) AEUV auf die Auslegung des EU-Rechts. Deshalb darf die Vorlagefrage nicht auf eine Entscheidung über einen nationalen Rechtsakt gerichtet sein, also nicht darauf, ob das ZWerbeG gegen EU-Recht verstößt, erst recht nicht darauf, ob V nach dem ZWerbeG bestraft werden kann. Diese Konsequenzen aus der Auslegungsentscheidung des EuGH muss nachher das nationale Gericht ziehen. Um einerseits eine Prüfung der Gültigkeit des nationalen Gesetzes zu vermeiden, andererseits aber auch der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage (dazu noch III) gerecht zu werden, wird die Frage dahin formuliert, ob EU-Recht so auszulegen ist, dass es „einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht“. (Vgl. auch noch das Ergebnis der Falllösung vor B III.)

2. Anders als bei Art. 100 GG gehört zur Vorlagefähigkeit nicht, dass das vorlegende Gericht von der Unvereinbarkeit eines staatlichen Gesetzes mit vorrangigem EU-Recht überzeugt ist. Vielmehr genügt nach Art. 267 II AEUV, dass das vorlegende Gericht die Entscheidung einer Frage für erforderlich hält. Da das belgische Strafgericht sich auf den Standpunkt gestellt hat, dass im Falle eines Verstoßes gegen EU-Recht das ZWerbeG gegenüber V nicht anwendbar ist und V dann nicht bestraft werden kann, hält es die Klärung der aufgeworfenen Frage für erforderlich.

3. Ausnahmsweise braucht eine Vorlage nicht zu erfolgen, wenn der EuGH die Frage bereits entschieden hat oder wenn vernünftige Zweifel an der richtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts offenkundig nicht bestehen (Acte-clair-Doctrin; EuGH Slg. 1982, 3415); einer dieser Fälle greift hier nicht ein.

Somit handelt es sich bei der Frage, ob Art. 56 AEUV einem Werbeverbot entgegen steht, um eine nach Art. 267 I a) AEUV vorlagefähige Fragestellung.

III. Die vorgelegte Frage muss für den Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht, also für das Ausgangsverfahren, entscheidungserheblich sein. Denn nur dann ist sie für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens erforderlich. Andererseits reicht es aus, dass das vorlegende Gericht die Entscheidung der Frage für erforderlich hält. Deshalb prüft der EuGH nicht selbst die Entscheidungserheblichkeit, sondern lässt es genügen, dass das vorlegende Gericht diese dargelegt hat, und knüpft daran die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit (EuGH EuZW 2013, 306, Melloni, [28]). Widerlegt werden kann die Vermutung nur, wenn die erbetene Auslegung der in den Fragen genannten Vorschriften des EU-Rechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem nur hypothetischer Natur ist (EuGH a. a. O.). Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlage, dass das ZWerbeG im Fall der vom Strafgericht in Betracht gezogenen Auslegung des Art. 56 AEUV nicht anwendbar ist und V nicht bestraft werden kann. Damit wird die Entscheidungserheblichkeit zumindest vermutet und ist nicht widerlegt.

Die Vorlage ist zulässig.

B. Entscheidung über die Vorlagefrage.

I. Eine Auslegung der Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf deren Bedeutung für ein Gesetz wie das ZWerbeG ist nur sinnvoll, wenn Art. 56 AEUV in dem vom ZWerbeG geregelten Sachverhalt anwendbar ist. Die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV ist eine der fünf Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes (Art. 26 - 66 AEUV): Freier Warenverkehr, Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Niederlassungsfreiheit der Unternehmer, Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehr.

1. Grundsätzlich ist der Anwendungsbereich des EU-Gemeinschaftsrechts auf Sachverhalte beschränkt, die Bedeutung in mindestens zwei Mitgliedstaaten haben, also auf grenzüberschreitende Sachverhalte. Davon zu unterscheiden sind rein innerstaatliche Sachverhalte, die vom Gemeinschaftsrecht nicht erfasst werden. Wie der Fall des V zeigt, gibt es Zahnärzte, die Patienten behandeln, die aus dem EU-Ausland kommen, und an die die Werbung des V sich richtet. Deshalb haben Werbebeschränkungen gegenüber Zahnärzten auch eine grenzüberschreitende Bedeutung.

EuGH 53-56] Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Bestimmungen des Vertrags, die die Verkehrsfreiheiten gewährleisten, nicht auf einen Sachverhalt anwendbar, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (…). Das Ausgangsverfahren betrifft zwar die Strafverfolgung eines Zahnarztes, der belgischer Staatsangehöriger, in Belgien niedergelassen und in diesem Mitgliedstaat tätig ist. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich aber, dass ein Teil der Patienten von Herrn V aus anderen Mitgliedstaaten stammt. Wie der EuGH bereits entschieden hat, kann der Umstand, dass zu den Kunden auch Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten gehören, einen grenzüberschreitenden Aspekt darstellen, der bedeutet, dass die Bestimmungen des Vertrags, die die Verkehrsfreiheiten gewährleisten, Anwendung finden (…). Sie finden dann auf den gesamten Sachverhalt Anwendung, und es wird nicht etwa zwischen Werbebeschränkungen gegenüber belgischen Patienten und solchen aus benachbarten Staaten unterschieden.

2. Im Originalfall wurde auch die Niederlassungsfreiheit (Art. Art. 49 AEUV) angesprochen und die Notwendigkeit gesehen, das Verhältnis zwischen dieser und der Dienstleistungsfreiheit zu bestimmen. Ergebnis war, dass nur die Dienstleistungsfreiheit zur Anwendung kommt. EuGH [58-60] Betrifft eine Maßnahme sowohl die Niederlassungsfreiheit als auch den freien Dienstleistungsverkehr, prüft der EuGH diese Maßnahme grundsätzlich nur im Hinblick auf eine dieser beiden Freiheiten, wenn sich herausstellt, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist (…). Dies ist hier der Fall. Da der grenzüberschreitende Aspekt, der dazu führt, dass die die Verkehrsfreiheiten gewährleistenden Bestimmungen des Vertrags anwendbar sind, im Ortswechsel von in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Dienstleistungsempfängern liegt (…), ist die Frage im Hinblick auf Art. 56 AEUV zu beantworten.

3. Nicht anwendbar ist eine Grundfreiheit, wenn eine Bereichsausnahme eingreift. Bei der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sind das Tätigkeiten, bei denen öffentliche Gewalt ausgeübt wird (Art. 51 I, 62 AEUV; vgl. auch die Schutzvorschriften in Art. 14 und 106 II AEUV für „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“, insbesondere für öffentliche Unternehmen der Daseinsvorsorge). Zahnärzte üben aber keine öffentliche Gewalt aus.

4. Im Originalfall war eine EU-Richtlinie anwendbar, die vorrangig zu prüfen war (EuGH [31-50]). Sie führte aber nicht dazu, dass Art. 56 AEUV in seinem wesentlichen Regelungsgehalt verdrängt wurde. Nach der Aufgabenstellung in obigem Sachverhalt ist sekundäres EU-Recht nicht zu prüfen.

II. Voraussetzung dafür, dass die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV einem gesetzlichen Werbeverbot für Zahnärzte entgegensteht, ist, dass ein solches Gesetz eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit enthält. (Statt „Beschränkung“, wie die Maßnahme in der deutschen Übersetzung des EuGH-Urteils bezeichnet wird, könnte auch - analog zur deutschen Grundrechtsdogmatik - von „Eingriff“ gesprochen werden.)

1. Zahnärzte üben eine freiberufliche Tätigkeit i. S. des Art. 57 II d) AEUV aus und erbringen somit Dienstleistungen. Die eigentliche zahnärztliche Tätigkeit wird durch ein ZWerbeG aber nicht beschränkt.

2. Eine Beschränkung der Werbung kann nur dann als Beschränkung der zahnärztlichen Tätigkeit angesehen werden, wenn auch bei Dienstleistern die Werbung für ihre Tätigkeit unter den Schutzbereich des Art. 56 AEUV fällt. Für rein kommerzielle Berufe wie beispielsweise Immobilienmakler steht das außer Frage. Ob das aber auch für Gesundheitsleistungen und rechtsberatende Berufe gilt, ist nicht selbstverständlich. Der EuGH behandelt diese Frage nicht näher, geht aber davon aus, dass die Befugnis zur Werbung auch zur Rechtsstellung dieser Berufe gehört. EuGH [61-64] Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit alle Maßnahmen zu verstehen, die die Ausübung dieser Freiheit untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen (…). Zudem umfasst der Begriff der Beschränkung insbesondere die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den freien Dienstleistungsverkehr in den übrigen Mitgliedstaaten berühren (…). Nationale Rechtsvorschriften, die jegliche Werbung für eine bestimmte Tätigkeit allgemein und ausnahmslos verbieten, sind geeignet, für die diese Tätigkeit ausübenden Personen die Möglichkeit einzuschränken, sich bei ihren potenziellen Kunden bekannt zu machen und die Dienstleistungen, die sie ihnen anbieten möchten, zu fördern. Daher sind solche nationalen Rechtsvorschriften als eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit anzusehen.

III. Die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit könnte gerechtfertigt sein.

1. Art. 62 AEUV verweist auf die primär für die Niederlassungsfreiheit geltenden Art. 51 bis 54 AEUV, die somit auch auf die Dienstleistungsfreiheit anwendbar sind. Von ihnen enthält Art. 52 AEUV eine Rechtsgrundlage für beschränkende Sonderregelungen gegenüber Ausländern aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Das ZWerbeG enthält aber keine Sonderregelung für Ausländer, sondern betrifft alle in Belgien tätigen Zahnärzte.

2. Beschränkungen von Grundfreiheiten sind auch aufgrund ungeschriebener Rechtfertigungsgründe möglich. Entwickelt wurden diese bei der Warenverkehrsfreiheit, bei der in der Beschränkungsvorschrift des Art. 36 AEUV der Verbraucherschutz und der Umweltschutz fehlen. Um diese Lücken zu schließen, wurden Beschränkungen wegen „zwingender Erfordernisse“ oder „zwingender Gründe des Allgemeininteresses“ anerkannt (vgl. EuGH Slg. 1979, 649, Cassis de Dijon). Im vorliegenden Fall ist die Ausgangsformulierung weniger so streng, [65] Was die Rechtfertigung einer solchen Beschränkung anbelangt, können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern, dann zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil vom 12. September 2013, Konstantinides, C‑475/11, EU:C:2013:542, Rn. 50 und die dort angeführte Rspr.).

a) EuGH [66] Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die öffentliche Gesundheit und die Würde des Zahnarztberufs schützen sollen.

aa) [67] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz der Gesundheit eines der Ziele ist, die als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden können und mit denen sich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2009, Hartlauer, C‑169/07, EU:C:2009:141, Rn. 46, und vom 12. September 2013, Konstantinides, C‑475/11, EU:C:2013:542, Rn. 51). Die hohe Bedeutung des Gesundheitsschutzes betont auch EuGH NJW 2016, 3771 [30], Doc Morris III.

bb) [68] Ferner ist in Anbetracht der Bedeutung des Vertrauensverhältnisses, das zwischen dem Zahnarzt und seinem Patienten herrschen muss, anzunehmen, dass auch die Würde des Zahnarztberufs einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann.

b) Das Werbeverbot müsste geeignet sein, diese Ziele zu erreichen oder wenigstens zu fördern. EuGH [69, 70] Ein intensives Betreiben von Werbung oder die Wahl von Werbeaussagen, die aggressiv oder sogar geeignet sind, die Patienten hinsichtlich der angebotenen Versorgung irrezuführen, kann dem Schutz der Gesundheit schaden und der Würde des Zahnarztberufs abträglich sein, indem das Image des Zahnarztberufs beschädigt, das Verhältnis zwischen den Zahnärzten und ihren Patienten verändert und die Durchführung unangemessener oder unnötiger Behandlungen gefördert wird. In diesem Zusammenhang ist ein allgemeines und ausnahmsloses Werbeverbot geeignet, die Erreichung der verfolgten Ziele zu gewährleisten, indem jegliche Werbung oder Verwendung von Werbeaussagen durch Zahnärzte verhindert wird.

c) Das Werbeverbot müsste auch erforderlich sein. Bei Prüfung der Erforderlichkeit ist nach EuGH [71] zu berücksichtigen, dass unter den vom Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen (…). Dieser Wertungsspielraum hat aber Grenzen.

aa) Bei Bestimmung der Grenzen ist davon auszugehen, dass sich die Erforderlichkeit auf die Mittel zur Zielerreichung bezieht. Ziele des Werbeverbots sind die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Gesundheit und für die Würde des Zahnarztberufs durch intensive, aggressive oder irreführende Werbung. Jedoch gehen diese Gefahren nicht von jeder Art von Werbung aus. Es ist durchaus möglich, durch Prospekte, Broschüren und vor allem durch eine Website im Internet zurückhaltend, sachlich und informierend zu werben. Auch der Text auf der von V aufgestellten Stele enthält keine intensive oder aggressive Werbung. Eine sachliche und informierende Werbung kann auch im Interesse der Patienten und ihrer Gesundheit liegen. Ein undifferenziertes und vollständiges Verbot von Werbung durch Ärzte ist deshalb nicht erforderlich. Mildere Mittel sind, den möglichen Inhalt der Werbung einzugrenzen und die intensive, aggressive und irreführende Werbung zu untersagen.

bb) EuGH [72-76] Unbeschadet des Wertungsspielraums geht die Einschränkung, die sich aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften ergibt, nach denen jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verboten ist, über das hinaus, was zur Erreichung der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils genannten Ziele erforderlich ist. Nicht alle der durch diese Rechtsvorschriften verbotenen Werbeaussagen sind für sich genommen geeignet, Wirkungen zu entfalten, die den in Rn. 69 des vorliegenden Urteils angeführten Zielen zuwiderlaufen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH zwar in Rn. 57 des Urteils Konstantinides (C‑475/11, EU:C:2013:542) festgestellt hat, dass eine nationale Regelung, die Werbung für medizinische Leistungen mit einem dem Berufsethos widersprechenden Inhalt verbietet, mit Art. 56 AEUV vereinbar ist. Die im Ausgangsverfahren fraglichen Rechtsvorschriften haben jedoch eine erheblich größere Reichweite. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Ziele der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden können, die - gegebenenfalls stark - eingrenzen, welche Formen und Modalitäten die von Zahnärzten verwendeten Kommunikationsinstrumente annehmen dürfen, ohne ihnen jedoch allgemein und ausnahmslos jegliche Form der Werbung zu verbieten.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten.

III. An diese Auslegung ist das belgische Strafgericht gebunden. Es wird daher das ZWerbeG wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht anwenden und V nicht bestrafen.


Zusammenfassung