VfB unmittelbar gegen Gesetz. Fernemeldegeheimnis, Art. 10 GG. Zitiergebot, Art. 19 I 2 GG. Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgungsvorsorge; Art. 74 I Nr. 1, 72 I GG. Bestimmtheit der Rechtsnormen. Verhältnismäßigkeit der Eingriffe in ein Grundrecht

BVerfG Urteil vom 27. 7. 2005 (1 BvR 668/04) NJW 2005, 2603 (einige nähere Angaben zum Sachverhalt wurden www.Bundesverfassungsgericht.de entnommen)

Fall (Vorbeugende Telefonüberwachung nach niedersächsischem SOG)

Durch eine Gesetzesänderung erhielt § 33a des niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG) folgende Fassung:

(1) Die Polizei kann personenbezogene Daten durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation erheben

1. zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person…, wenn die Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise nicht möglich erscheint…,

2. über Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden, wenn die Vorsorge für die Verfolgung oder die Verhütung dieser Straftaten auf andere Weise nicht möglich erscheint, sowie

3. über Kontakt- oder Begleitpersonen der in Nr. 2 genannten Personen, wenn dies zur Vorsorge für die Verfolgung oder zur Verhütung einer Straftat nach Nummer 2 unerlässlich ist.

Was „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ sind, ist in § 2 Nr. 10 für den gesamten Geltungsbereich des SOG geregelt. § 33a Absatz (2) bestimmt, welche Daten erhoben werden dürfen, Absatz (3) regelt die Zuständigkeit für die Anordnung der Maßnahmen. Nach § 30 SOG hat eine nachträgliche Unterrichtung des Betroffenen zu erfolgen, allerdings sind weitgehende Ausnahmen zugelassen. § 10 SOG enthielt bereits vor der Einfügung des § 33a die Klausel, dass durch das SOG Grundrechte, auch Art. 10 GG eingeschränkt werden.

Der in Niedersachsen wohnende B hat alsbald nach Erlass des Gesetzes hiergegen Verfassungsbeschwerde (VfB) beim BVerfG erhoben. Er hat keine Bedenken gegen § 33a I Nr. 1, macht aber geltend, § 33a (1) Nr. 2 und 3 SOG seien so weit und unbestimmt gefasst, dass er es für möglich halte, dass auch er zu diesem Personenkreis gerechnet und überwacht werde; insbesondere habe er einen großen Bekanntenkreis, so dass er vor allem als Kontaktperson überwacht werden könne. Hat die VfB Erfolg ?

A. Zulässigkeit der VfB (§§ 90 ff. BVerfGG)

I. Hoheitsakt: Die VfB richtet sich gegen ein formelles Landesgesetz, das ein Hoheitssakt i. S. des § 90 I BVerfGG ist und Gegenstand einer VfB sein kann. Es handelt sich um einen Unterfall der Normenkontrolle.

II. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung:

1. B kann sich auf eine Verletzung seines Grundrechts auf Schutz des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) berufen.

2. BVerfG S. 2604 unter I: Das allgemein aus Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG folgende Recht auf informationelle Selbstbestimmung tritt hinter die speziellere Gewährleistung aus Art. 10 GG zurück, soweit die Schutzbereiche sich überschneiden (vgl. BVerfGE 100, 313 [358]; 110, 33 [53]). Da hier das Fernmeldegeheimnis vor der Datenerhebung schützt, liegt eine Überschneidung der Schutzbereiche vor, so dass Art. 10 vorrangig ist.

III. Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) und Frist (§ 93 III BVerfGG):

1. Gegenüber einem formellen Gesetz gibt es keinen einfachen, fachgerichtlichen Rechtsweg (vgl. § 93 III BVerfGG).

2. Die Jahresfrist nach § 93 III BVerfGG hat B gewahrt.

IV. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen:

Es handelt sich um spezielle Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer VfB gegen eine Rechtsnorm (BVerfGE 109, 305), die das BVerfG hier in abweichender Reihenfolge prüft.

1. Die Unmittelbarkeit tritt praktisch an die Stelle der sonst erforderlichen Rechtswegerschöpfung und ist negativ zu bestimmen: An der Unmittelbarkeit fehlt es, wenn das Gesetz noch eines Vollzuges bedarf. Denn dann muss der Betroffene grundsätzlich den Vollzugsakt abwarten und zunächst gegen diesen den Rechtsweg beschreiten.

a) Im vorliegenden Fall bedarf § 33a SOG noch des Vollzugs dadurch, dass die Überwachung der Telekommunikation von den nach § 33a (3) zuständigen Stellen angeordnet und von der Polizei durchgeführt wird. Danach würde die Unmittelbarkeit fehlen.

b) Von obigem Grundsatz gibt es aber Ausnahmen, wobei im vorliegenden Fall eine solche Ausnahme eingreift. BVerfG S. 2603 unter I: Eine VfB kann sich ausnahmsweise unmittelbar gegen ein vollziehungsbedürftiges Gesetz richten, wenn der Bf. den Rechtsweg nicht beschreiten kann, weil er keine Kenntnis von der Maßnahme erlangt (vgl. BVerfGE 30, 1 [16 f.];…109, 279 [306]). Gleiches gilt, soweit eine nachträgliche Bekanntgabe zwar vorgesehen ist, von ihr aber auf Grund weit reichender Ausnahmetatbestände auch langfristig abgesehen werden kann. Unter diesen Umständen ist effektiver fachgerichtlicher Rechtsschutz nicht gewährleistet (vgl. BVerfGE 109, 279 [307]).

Die Datenerhebung durch Überwachung der Telekommunikation gem. § 33a NdsSOG erfolgt heimlich. Der Betroffene erfährt weder vor noch während der Durchführung von der Maßnahme, so dass zu diesem Zeitpunkt kein fachgerichtlicher Rechtsschutz in Anspruch genommen werden kann. Der Umstand, dass § 30 IV NdsSOG eine Unterrichtung vorsieht, sobald dies ohne Gefährdung der Maßnahme möglich ist, steht der Zulässigkeit der VfB nicht entgegen. Eine zeitnahe Kenntnis von der Maßnahme und eine daran anknüpfende Möglichkeit zur Überprüfung im gerichtlichen Verfahren sind nicht gewährleistet, weil § 30 V NdsSOG umfangreiche Ausnahmetatbestände enthält.

Somit ist B trotz der Vollzugsbedürftigkeit des § 33a SOG unmittelbar durch diesen betroffen.

2. BVerfG S. 2603 unter II: Der Bf. ist durch die angegriffenen Vorschriften auch selbst und gegenwärtig betroffen.

Erfolgt die konkrete Beeinträchtigung – wie hier – zwar erst durch die Vollziehung des angegriffenen Gesetzes, erlangt der Betroffene jedoch in der Regel keine Kenntnis von den Vollzugsakten, reicht es für die Möglichkeit der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit aus, wenn der Bf. darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird (vgl. BVerfGE 67, 157 [169 f.];… 109, 279 [307 f.]).… Im Hinblick darauf genügen die Darlegungen des Bf. zum Nachweis seiner persönlichen und gegenwärtigen Betroffenheit. Betroffener einer Überwachung ist jeder, in dessen Persönlichkeitsrechte durch die Maßnahme eingegriffen wird, auch wenn er nicht Zielperson der Anordnung ist (vgl. BVerfGE 109, 279 [308]). Die Möglichkeit, Objekt einer Maßnahme der Telekommunikationsüberwachung auf Grund der angegriffenen Regelung zu werden, besteht praktisch für jedermann. Sie kann nicht nur den möglichen Straftäter selbst oder dessen Kontakt- und Begleitpersonen erfassen, sondern auch Personen, die mit den Adressaten der Maßnahme über Telekommunikationseinrichtungen in Verbindung stehen.

V. Weitere Bedenken gegen die Zulässigkeit der VfB sind nicht ersichtlich. Somit ist die VfB zulässig.

B. Begründetheit der VfB

Die VfB ist begründet, wenn B durch § 33a I Nr. 2 und 3 NdsSOG in seinem Grundrecht auf Schutz des Fernemeldegeheimnisses (Art. 10 GG) verletzt ist.

I. Dann müsste ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegen.

1. Zum Schutzbereich:

a) BVerfG S. 2604 unter 1a): Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses umfasst den Kommunikationsinhalt und die Kommunikationsumstände. Die öffentliche Gewalt soll grundsätzlich nicht die Möglichkeit haben, sich Kenntnis vom Inhalt der über Fernmeldeanlagen abgewickelten mündlichen oder schriftlichen Information zu verschaffen. Dabei bezieht sich der Grundrechtsschutz auf alle mittels der Fernmeldetechnik ausgetauschten Informationen (vgl. BVerfGE 100, 313 [358]; 106, 28 [37]; 107, 299 [313]; 110, 33 [52 f.]). In den Schutzbereich fällt auch die Erlangung der Kenntnis, ob, wann, wie oft und zwischen welchen Personen Telekommunikation stattgefunden hat oder versucht worden ist (vgl. …BVerfGE 107, 299 [312 f]). Die freie Kommunikation, die Art. 10 GG sichert, leidet, wenn zu befürchten ist, dass der Staat entsprechende Kenntnisse verwertet…

b) Im vorliegenden Fall gestattet § 33a NdsSOG die „Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation“, bezieht sich also auf Umstände, die unter den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses fallen.

2. BVerfG S. 2604 unter 1b): Ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis liegt vor. Auf Grund der angegriffenen Normen können sich staatliche Stellen ohne Zustimmung der Beteiligten Kenntnis von dem Inhalt und den Umständen eines fernmeldetechnisch vermittelten Kommunikationsvorgangs verschaffen… Nach § 33a II NdsSOG können Inhalte der Telekommunikation…ebenso erfasst werden wie die Verbindungsdaten und die Standortkennung von Mobilfunkendeinrichtungen. Die Vielzahl der im Rahmen der modernen Telekommunikation erfassbaren Daten führt zu einer besonderen Intensität der mit den verschiedenen Überwachungsmaßnahmen verbundenen Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis (vgl. BVerfGE 107, 299 [318 f.], zu Verbindungsdaten).

Somit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 I GG vor.

II. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Art. 10 II 1 GG enthält einen Gesetzesvorbehalt, § 33a NdsSOG ist ein Gesetz im Sinne dieser Vorschrift. Jedoch muss das in ein Grundrecht eingreifende Gesetz zunächst den speziellen Anforderungen an grundrechtsbeschränkende Gesetze genügen – im vorliegenden Fall ist das Art. 19 I 2 GG – und muss auch im Übrigen in jeder Hinsicht formell und materiell verfassungsmäßig sein (BVerfG NJW 2005, 2289, 2291 = JurTel 2005 Heft 11 S. 232/3, Europäischer Haftbefehl).

1. Zur formellen Seite der Verfassungsmäßigkeit gehört die Beachtung des Zitiergebots nach Art. 19 I 2 GG.

a) BVerfG S. 2604 unter aa): Nach Art. 19 I 2 GG muss ein Gesetz dasjenige Grundrecht unter Angabe seines Artikels benennen, das durch dieses Gesetz oder auf Grund dieses Gesetzes eingeschränkt wird.…Das Zitiergebot erfüllt eine Warn- und Besinnungsfunktion (vgl. BVerfGE 64, 72 [79 f.]). Durch die Benennung des Eingriffs im Gesetzeswortlaut soll gesichert werden, dass der Gesetzgeber nur Eingriffe vornimmt, die ihm als solche bewusst sind und über deren Auswirkungen auf die betroffenen Grundrechte er sich Rechenschaft ablegt…

Das Grundrecht auf Wahrung des Fernmeldegeheimnisses wird durch Art. 10 I 1 GG geschützt und steht nach Art. 10 II 1 GG unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt. Das Zitiergebot findet Anwendung auf Grundrechte, die auf Grund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen (vgl. BVerfGE 64, 72 [79 f.]), also auch auf das Fernmeldegeheimnis.

b) Dass Art. 10 GG bereits in § 10 SOG als eingeschränkt zitiert wurde, reicht nicht aus, da mit § 33a NdsSOG eine deutlich erweiterte Eingriffsgrundlage für eine präventive Telekommunikationsüberwachung durch die Polizei geschaffen wurde. BVerfG LS 1: Führt die Änderung eines Gesetzes zu neuen Grundrechtseinschränkungen, ist das betroffene Grundrecht im Änderungsgesetz auch dann gem. Art. 19 I 2 GG zu benennen, wenn das geänderte Gesetz bereits eine Zitiervorschrift im Sinne dieser Bestimmung enthält.

c) Obwohl die Verletzung des Art. 19 I 2 grundsätzlich zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führt (BVerfG S. 2604 unter aa), ist das hier nicht der Fall. Denn bisher war nicht geklärt, ob auch Änderungsgesetze stets eine eigene Zitiervorschrift enthalten müssen. Deshalb (so BVerfG S. 2604 unter bb) führt die Nichtbeachtung des Zitiergebots erst bei solchen grundrechtseinschränkenden Änderungsgesetzen zur Nichtigkeit, die nach dem Zeitpunkt der Verkündung dieser Entscheidung beschlossen werden. Verkündungszeitpunkt war der 27. 7. 2005. § 33a SOG wurde vorher beschlossen. Die Verletzung des Art. 19 I 2 bleibt also folgenlos (und es bleibt bei der Erkenntnis, dass bisher noch kein Gesetz an Art. 19 I 2 gescheitert ist).

2. Zur formellen Seite der Verfassungsmäßigkeit gehört ferner, dass der das Gesetz erlassende Gesetzgeber über die Gesetzgebungskompetenz verfügt. § 33a NdsSOG wurde vom Landesgesetzgeber erlassen. Nach Art. 70 I GG haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz, soweit die Gesetzgebungszuständigkeit nicht dem Bund zugewiesen ist. Es ist somit eine die Kompetenz der Länder verdrängende Bundeskompetenz zu prüfen.

a) BVerfG S. 2605 unter aa): Eine Zuständigkeit des Bundes für Maßnahmen im Bereich der Telekommunikationsüberwachung folgt nicht aus Art. 73 Nr. 7 GG. Die ausschließliche Zuweisung der Gesetzgebungsbefugnis für die Telekommunikation betrifft die technische Seite der Errichtung einer Telekommunikationsinfrastruktur und der Informationsübermittlung, nicht aber Regelungen, die auf die übermittelten Inhalte oder die Art der Nutzung der Telekommunikation ausgerichtet sind. Bei den Regelungen über die Telekommunikationsüberwachung in § 33a NdsSOG geht es nicht vorrangig um technische Fragen der Datenübermittlung, sondern um den Zugriff auf Informationen. Sie sind kompetenzmäßig dem Bereich zuzurechnen, für dessen Zwecke die Überwachung erfolgen soll, hier dem der Straftatenverhütung und –verfolgung.

b) Soweit § 33a SOG Maßnahmen zur Verhütung einer Straftat zulässt, ist eine Bundeskompetenz nicht ersichtlich. BVerfG S. 2605 unter bb): Die Verhütung einer Straftat liegt in der Gesetzgebungskompetenz der Länder für die Gefahrenabwehr … Für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten besteht keine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes… Derartige Maßnahmen sind allenfalls insoweit der Bundeskompetenz zuzuordnen, als sie zu einem von ihr erfassten Sachbereich in einem notwendigen Zusammenhang stehen, insbesondere für den wirksamen Vollzug einer Bundesregelung erforderlich sind (vgl. BVerfGE 109, 190 [215]). Das ist bei den hier zu beurteilenden Bestimmungen des niedersächsischen Gesetzes nicht der Fall.

Somit hatte das Land Nds die Gesetzgebungskompetenz, soweit § 33a I Nr. 2 und 3 Maßnahmen zu dem Zweck zulässt, Straftaten zu verhüten.

c) Außerdem gestattet § 33a I Nr. 2 und 3 Maßnahmen zum Zweck der „Vorsorge für die Verfolgung…dieser Straftaten“. BVerfG S. 2605 unter (1): Das niedersächsische Recht hat die Verfolgungsvorsorge als eigenständige Aufgabe mit der Befugnis zur Telekommunikationsüberwachung geregelt. Das Gesetz trennt ausdrücklich zwischen der Vorsorge für die Verfolgung und der Verhütung einer Straftat. Für die Verfolgungsvorsorge könnte dem Bund die konkurrierende Zuständigkeit nach Art. 74 I Nr. 1 GG zustehen.

Unter Art. 74 I Nr. 1 fällt das gerichtliche Verfahren unter Einschluss des Strafverfahrens. BVerfG S. 2605/6 unter (2): Die Vorsorge für die spätere Verfolgung von Straftaten ist kompetenzmäßig dem „gerichtlichen Verfahren“ i. S. des Art. 74 I Nr. 1 GG zuzuordnen. Die gesetzliche Ermächtigung bezweckt die Sicherung von Beweisen für ein künftiges Strafverfahren.

Allerdings fehlt es in diesem Fall – im Unterschied zur herkömmlichen Strafverfolgung – noch an einer Straftat, es besteht noch nicht einmal der Anfangsverdacht einer begangenen Straftat. Art. 74 I Nr. 1 enthält aber keine Einschränkung dahin gehend, dass vorsorgende Maßnahmen, die sich auf die Durchführung künftiger Strafverfahren beziehen, von der Zuweisung zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nicht erfasst sein sollen (vgl. BVerfGE 103, 21 [30]). Die Ungewissheit, ob die zur Strafverfolgung vorsorglich gespeicherten Daten für diesen Zweck später benötigt werden, kann sich bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme auswirken, steht aber der Zuordnung der Regelung zur Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren nicht entgegen.

Somit steht dem Bund nach Art. 74 I Nr. 1 die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die in § 33a SOG geregelten Maßnahmen der Strafverfolgungsvorsorge zu.

d) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung sind die Länder von der Gesetzgebung nur dann ausgeschlossen, wenn der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I GG). Eine dem § 33a SOG entsprechende Regelung hat der Bund nicht erlassen (andernfalls hätte sich das Land Nds nicht veranlasst gesehen, eine solche Regelung zu treffen). Der Bund könnte in der StPO aber eine abschließende Regelung getroffen haben, die für das Land Nds eine Sperrwirkung auslöst.

aa) BVerfG S. 2606 unter (a): Inwieweit bundesgesetzliche Regelungen erschöpfend sind, kann nicht allgemein, sondern nur anhand der einschlägigen Bestimmungen und des jeweiligen Sachbereichs festgestellt werden (vg. BVerfGE 109, 190 [229}). Es ist in erster Linie auf das Bundesgesetz selbst, sodann auf den hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck, ferner auf die Gesetzgebungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien abzustellen (vgl. BVerfGE 98, 265 [300 f.]). Der Bund macht von seiner Kompetenz nicht nur dann Gebrauch, wenn er eine Regelung getroffen hat. Vielmehr kann auch das absichtsvolle Unterlassen eine Sperrwirkung für die Länder erzeugen (vgl. BVerfGE 32, 319 [327 f.]; 98, 265 [300])… Der Eintritt einer Sperrwirkung zu Lasten der Länder setzt voraus, dass der Gebrauch der Kompetenz durch den Bund bei der Gesamtwürdigung des Normenkomplexes hinreichend erkennbar ist. Hat der Bund einen Sachbereich in diesem Sinne abschließend geregelt, ist die Gesetzgebung den Ländern unabhängig davon versperrt, ob die landesrechtlichen Regelungen den bundesrechtlichen Bestimmungen widerstreiten oder sie nur ergänzen.

bb) BVerfG S. 2606 unter (aa): Der Bundesgesetzgeber hat die Überwachung der Telekommunikation zu Zwecken der Strafverfolgung in den §§ 100a, 100b, 100g, 100h und 100i StPO nach Umfang, Zuständigkeit und Zweck sowie hinsichtlich der für die jeweilige Maßnahme erforderlichen Voraussetzungen umfassend geregelt. Dabei war sich der Bundesgesetzgeber – wie die bestehenden Vorschriften in anderen Bereichen zeigen (etwa die §§ 81b, 81g StPO) – durchaus der kompetenzrechtlichen Möglichkeit bewusst, im Bereich der Strafverfolgung auch präventive Regelungen zu treffen. Der Verzicht des Bundesgesetzgebers darauf, die Telekommunikationsüberwachung im Vorfeldbereich [= von Straftaten] noch weiter auszudehnen, ist eine bewusste Entscheidung. Anhaltspunkte dafür, dass der Bundesgesetzgeber insofern Parallelregelungen durch die Länder und damit Überschneidungen hätte in Kauf nehmen wollen, sind nicht erkennbar. Für die bundesrechtliche Regelung ist wesentlich, dass sie vom Vorliegen eines Anfangsverdachts hinsichtlich einer begangenen Straftat ausgeht oder verlangt, dass eine Straftat vorbereitet wird. Solche Einschränkungen enthält § 33a NdsSOG nicht, wenn es in Nr. 2 ausreichen lässt, dass „Personen…Straftaten…begehen werden…“ Nach § 33a I Nr. 2 und 3 NdsSOG werden Vorfeldmaßnahmen möglich, die nach der StPO gerade ausgeschlossen sein sollen. Das kann auch nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung vermieden werden. Das NdsSOG bietet keine Anhaltspunkte für eine restriktive Auslegung und enthält keine Vorkehrungen zur Verhinderung von Überschneidungen.

Folglich widerspricht § 33a Nds insoweit der in der StPO getroffenen Regelung. Der nds Landesgesetzgeber war nach Art. 70 I, 74 I Nr. 1, 72 II GG nicht für den Erlass dieser Vorschriften zuständig. Sie sind formell verfassungswidrig.

3. Sie könnten auch materiell verfassungswidrig sein. Praktische Bedeutung hätte das vor allem für die in § 33a I Nr. 2 und 3 enthaltenen Vorschriften zur Verhütung von Straftaten, da diese nicht an einer fehlenden Zuständigkeit gescheitert sind (oben 2b). Zur materiellen Seite der Verfassungsmäßigkeit rechnet das BVerfG auf S. 2607 unter a) das Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit. Es wird normalerweise aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet, im vorliegenden Fall vom BVerfG aber direkt auf Art. 10 gestützt.

a) Das Gebot soll sicherstellen, dass der betroffene Bürger sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen kann, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können (vgl. BVerfGE 110, 33 [52 f.]). Der Anlass, der Zweck und die Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [359 f., 372]; 110, 33 [53])… Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm erhöhen sich, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwert (vgl.…BVerfGE 108, 52 [75]; 110, 33 [53]). Für Ermächtigungen zu Überwachungsmaßnahmen verlangt das Bestimmtheitsgebot…, dass die betroffene Person grundsätzlich erkennen kann, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten mit dem Risiko der Überwachung verbunden ist.

b) BVerfG S. 2608 unter cc): § 33a I Nr. 2 und 3 NdsSOG verlangen keinen konkreten, in der Entwicklung begriffenen Vorgang oder dessen Planung (vgl. dazu BVerfGE 110, 33 [56 ff.]), aber auch keine konkreten Vorbereitungshandlungen… Es genügt die auf Tatsachen gegründete, nicht näher konkretisierte Möglichkeit, dass jemand irgendwann in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Eine derart weite Ermächtigung wird dem Bestimmtheitsgebot nicht gerecht. Es fehlen Eingrenzungen bei den möglichen Indikatoren für die Begehung von Straftaten, beim Grad der Wahrscheinlichkeit und in zeitlicher Hinsicht. Somit verstößt das Gesetz gegen das Gebot zur Bestimmtheit und Klarheit von in Grundrechte eingreifenden Normen.

4. Die wichtigste materielle Schranke für die Rechtfertigung von Eingriffen in Grundrechte wird vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit gebildet. Es lässt sich ebenfalls sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip als auch aus dem Grundrecht selbst herleiten. Danach muss eine belastende Maßnahme zur Erreichung des damit verfolgten – für sich genommen legitimen – Zwecks geeignet sein, muss erforderlich/notwendig sein und darf nicht gegen das Gebot der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i. e. S.) verstoßen.

a) Zur Verfolgung des Zwecks, Straftaten zu verhüten und zu verfolgen, ist die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs von potenziell verdächtigen Personen geeignet. Soll dieser Zweck in möglichst weitgehendem Maße erreicht werden, ist nicht ersichtlich, dass er sich durch mildere Maßnahmen gleich wirkungsvoll erreichen lässt, so dass die Überwachung sich auch als erforderlich erweist. – Das BVerfG ist auf diese beiden Aspekte nicht eingegangen, sondern hat sich auf S. 2609 sogleich b) zugewandt.

b) Nach dem Gebot zur Verhältnismäßigkeit i. e. S. dürfen Einbußen an grundrechtlich geschützter Freiheit nicht in unangemessenem Verhältnis zu den Zwecken stehen, denen die Grundrechtsbeschränkung dient.

aa) Hierfür bedarf es einer Abwägung, für die das BVerfG vorab folgende allgemeinen Regeln aufstellt:

bb) BVerfG S. 2609 unter bb): Die Überwachung der Telekommunikation auf der Grundlage des § 33a I Nr. 2 und 3 NdsSOG ermöglicht einen schwerwiegenden Eingriff in das Fernmeldegeheimnis… Die Standortkennung eingeschalteter Mobilfunkendeinrichtungen kann zur Erstellung eines Bewegungsbildes führen, über das gegebenenfalls auf Gewohnheiten der betroffenen Personen oder auf Abweichungen hiervon geschlossen werden kann. Grundrechtlich bedeutsam ist ferner die große Streubreite der Eingriffe. Zu den betroffenen Personen können auch gänzlich Unbeteiligte gehören, soweit sie als Begleitpersonen erfasst werden. Schließlich wird das Gewicht des Eingriffs auch dadurch erhöht, dass ein vorheriger Rechtsschutz mangels Kenntnis von dem Eingriff nicht möglich ist.

cc) Zu Gunsten des Eingriffs ist zu berücksichtigen, dass die Datenerhebung einem legitimen Zweck dient und die Folge haben kann, dass schwerwiegende Straftaten verhütet werden. Darauf sind die Eingriffe aber nicht begrenzt. Vielmehr wirkt sich die oben 3. festgestellte mangelnde Bestimmtheit auch auf die Frage der Verhältnismäßigkeit aus. BVerfG S. 2610 unter (1): In solchen Fällen lassen sich das den Eingriff rechtfertigende Schutzgut und die Art seiner Gefährdung dem Gesetz nicht in einer Weise entnehmen, die eine nachvollziehbare Abwägung mit der Schwere des Eingriffs erlaubt. Somit kann nicht festgestellt werden, dass der Schwere des Eingriffs ein gleich hohes oder höheres Schutzgut, das für den Eingriff spricht, gegenüber steht. Daraus ergibt sich die Unverhältnismäßigkeit der in § 33a I Nr. 2 und 3 gestatteten Maßnahmen.

cc) Wie das BVerfG auf S. 2610/1 unter (a) ausführt, kann der festgestellte Mangel auch nicht durch eine einengende verfassungskonforme Auslegung des § 33a I Nr. 2 und 3 SOG beseitigt werden, denn dadurch würde das Defizit an Normenklarheit weiter verschärft.

5. Speziell bei mit Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre verbundenen Überwachungsmaßnahmen sind Vorkehrungen erforderlich (so BVerfG S. 2611/2 unter c), dass Eingriffe in den absoluten Kern geschützter Lebensgestaltung unterbleiben… Die nach Art. 1 I GG stets garantierte Unantastbarkeit der Menschenwürde fordert auch im Gewährleistungsbereich des Art. 10 I GG Vorkehrungen zum Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung. Bestehen im konkreten Fall tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine Telekommunikationsüberwachung Inhalte erfasst, die zu diesem Kernbereich zählen, ist sie nicht zu rechtfertigen und muss unterbleiben. Vorschriften, die das gewährleisten, fehlen im NdsSOG. Auch dieser Mangel führt zur Verletzung des Art. 10 GG.

III. Zum Ergebnis BVerfG auf S. 2612 unter III: Die Regelungen des § 33a I Nrn. 2 und 3 NdsSOG sind danach mit Art. 10 GG unvereinbar und nichtig. Die von B hiergegen erhobene VfB ist zulässig und begründet.

 Zusammenfassung