Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz
► Straßenverkehrsrecht: Maßnahmen im Rahmen des Punktesystems zur Vorbereitung einer Fahrerlaubnisentziehung, § 4 StVG. ► Rechtscharakter der Eintragung im Verkehrszentralregister und eines Warnschreibens nach § 4 III Nr. 1 StVG. ► Begriff des Verwaltuingsakts, § 35, 1 VwVfG; Regelung, Bindungswirkung. ► Klageart bei vorbeugendem Rechtsschutz
BVerwG Beschluss vom 15. 12. 2006 (3 B 49/06) NJW 2007, 1299
Fall (Streit um Punktestand in Flensburg)
A ist Inhaber einer Fahrerlaubnis. Im Laufe der Zeit wurde zu seinen Lasten eine Reihe von Punkten im Verkehrszentralregister eingetragen, von denen einige inzwischen wieder gelöscht wurden. Aus Verkehrsübertretungen stehen derzeit noch sieben Punkte im Register. Vor drei Monaten wurde A wegen Betruges und falscher uneidlicher Aussage zu einer Geldstrafe verurteilt. Nach Rechtskraft des Urteils erhielt A ein Schreiben seiner zuständigen Straßenverkehrsbehörde B vom 23. 7. Darin wurde ihm eine „Mitteilung“ des Kraftfahrtbundesamtes vom 1. 7. übersandt, in der sein Punktestand mit zwölf Punkten angegeben wurde. Zu den Punkten wegen Verkehrsübertretungen waren fünf Punkte wegen des Betruges und der falschen Aussage hinzugefügt worden. In dem Schreiben vom 23. 7. sprach die B-Behörde gegenüber A eine Verwarnung aus und verwies auf die Möglichkeit, durch die Teilnahme an einem Aufbauseminar eine Punktereduzierung zu erreichen. Das Schreiben enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung. A hält die Belastung mit Punkten für ein Verhalten, das mit dem Straßenverkehr nichts zu tun hat, für unzulässig und fragt, ob eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Mitteilung vom 1. 7. und das Schreiben vom 23. 7. - gegebenenfalls nach Durchführung eines Widerspruchsverfahrens - zulässig wäre.
A. Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges hat gemäß § 40 I 1 VwGO eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit zur Voraussetzung.
I. Maßgebend ist zunächst, ob die Maßnahmen, gegen die sich die Klage richten soll, eine öffentlich-rechtliche Rechtsgrundlage haben.
1. Aus der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 1. 7. ergibt sich, dass eine Eintragung von fünf Punkten wegen einer strafrechtlichen Verurteilung erfolgt ist und dass diese Tatsache der B-Behörde übermittelt worden ist. Gegen diese, im Zusammenhang stehenden Maßnahmen könnte A sich im Klagewege wenden. Die Führung des Verkehrszentralregisters durch das Kraftfahrtbundesamt sowie die Übermittlung der dort gespeicherten Daten sind in §§ 30 ff. StVG und in §§ 59 ff. der FahrerlaubnisVO geregelt. Diese Vorschriften gehören zum öffentlich-rechtlichen Straßenverkehrsrecht. Die Mitteilung vom 1. 7. ist somit eine öffentlich-rechtliche Maßnahme.
2. Das Schreiben der B-Behörde vom 23. 7. beruht auf § 4 III Nr. 1 StVG und hat damit ebenfalls eine öffentlich-rechtliche Rechtsgrundlage.
II. Somit wendet sich A gegen Maßnahmen, die auf einer öffentlich-rechtlichen Rechtsgrundlage ergangen und folglich öffentlich-rechtlicher Natur sind. Die gegen sie gerichtete Klage hat eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit zum Gegenstand. Der Verwaltungsrechtsweg ist gegeben.
B. Es ist die Zulässigkeit der Klage unter dem Gesichtspunkt der Klageart zu prüfen.
I. Gegenüber beiden Maßnahme könnte es sich um eine Anfechtungsklage handeln. Dann müssten diese Maßnahmen - die Mitteilung des Kraftfahrbundesamtes vom 1. 7. und das Schreiben der B-Behörde vom 23. 7. - Verwaltungsakte sein (§ 35, 1 VwVfG).
1. Sowohl das Kraftfahrtbundesamt als auch die Straßenverkehrsbehörde B sind Behörden, da sie gegenüber den Bürgern Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen (§ 1 IV BVwVfG, § 1 II LVwVfG).
2. Dass beide Maßnahmen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ergangen sind, ergibt sich aus den Ausführungen zum Verwaltungsrechtsweg oben A I.
3. Es müsste sich auch jeweils um eine Regelung handeln. Hierfür ist Voraussetzung, dass die Maßnahme auf eine unmittelbare Rechtswirkung, d. h. auf eine Rechtsfolge gerichtet ist. Das ist für die beiden Maßnahmen getrennt zu prüfen.
a) Regelungswirkung könnte der Eintragung im Verkehrszentralregister durch das Kraftfahrtbundesamt und ihrer Mitteilung an die B-Behörde vom 1. 7. zukommen. Von den möglichen Arten der Regelung scheiden von vornherein aus: ein Verbot oder Gebot, die Einräumung eines Rechts oder deren Versagung, der Entzug eines Rechts oder eine sonstige Rechtsgestaltung i. e. S., ferner auch eine dingliche Regelung i. S. des § 35, 2 VwVfG. Es bleibt somit nur die Möglichkeit der Feststellung einer Rechtsfolge, die zur Annahme eines feststellenden VA führen würde. Die in diem Zusammenhang wesentliche Rechtsfolge, der Entzug der Fahrerlaubnis, wird durch die Eintragung und Mitteilung des Punktestandes zwar vorbereitet, aber noch nicht herbeigeführt.
Ob die Eintragung und Mitteilung des Punktestandes die Feststellung einer Rechtsfolge enthält, hat das BVerwG in BVerwGE 77, 268 ff. geprüft. Es hat sich dort mit den Argumenten der Vorinstanz, des OVG Lüneburg, auseinandergesetzt, das einen VA angenommen hatte.
aa) Eine Regelung könnte sich daraus ergeben, dass einer Eintragung im Verkehrszentralregister eine rechtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Eintragung vorausgeht. BVerwGE 77, 271: Diese Überlegung reicht aber für die Bejahung einer Regelung nicht aus, weil Verwaltungshandeln häufig rechtlich determiniert ist und die einer Maßnahme vorausgehende Prüfung des Rechtslage noch nichts über deren Einordnung in den Katalog der Handlungsformen aussagt. Auch einem schlichten Verwaltungshandeln (einem Realakt) geht i. d. R. die Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit voraus.
bb) Eine regelnde Feststellung könnte anzunehmen sein, wenn die Eintragung und ihre Mitteilung für spätere Entscheidungen der Straßenverkehrsbehörde wie insbesondere eine Entziehung der Fahrerlaubnis Tatbestands- oder sonstige Bindungswirkung hätte. Dem steht aber § 4 III 2 StVG entgegen, wonach die Fahrerlaubnisbehörde an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden ist. Daraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen, dass sie an Mitteilungen des Kraftfahrtbundesamtes nicht gebunden ist. BVerwGE 77, 272: Das Kraftfahrtbundesamt hat aufgrund der erfassten Entscheidungen den Punktestand eines Kraftfahrzeugführers zu ermitteln und von bestimmten Schwellenwerten an die zuständigen Straßenverkehrsbehörden davon zu unterrichten. Erst diese Behörden entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen gegen den Fahrerlaubnisinhaber zu ergreifen sind; dabei müssen sie auch die Richtigkeit der Punktewertung eigenständig überprüfen.
cc) BVerwGE 77, 274 bringt noch ein praktisches Argument von erheblichem Gewicht gegen die Annahme eines VA: Wäre die Eintragung im Verkehrszentralregister ein VA, so müsste ihr ein Verwaltungsverfahren (§ 9 VwVfG) mit Ermittlungspflicht (§ 24 VwVfG), Anhörung des Betroffenen (§ 28 VwVfG), Möglichkeit der Akteneinsicht (§ 29 VwVfG) und einer Begründung (§ 39 VwVfG) vorausgehen. Dieses wäre aber bei einer Zahl von nahezu 10 000 pro Arbeitstag eingehenden Meldungen [Stand 1987, seit der Wiedervereinigung dürfte diese Zahl noch weiter gestiegen sein] praktisch nicht durchführbar.
Somit haben Eintragung und Mitteilung keine Regelungswirkung und sind kein VA. Sie sind als schlichtes Verwaltungshandeln bzw. als Realakt einzuordnen. Ihnen gegenüber ist eine Anfechtungsklage nicht statthaft.
b) In der hier zu behandelnden Entscheidung BVerwG NJW 2007, 1299 geht es um eine Maßnahme der Straßenverkehrsbehörde gemäß § 4 III Nr. 1 StVG im Rahmen des in § 4 geregelten Punktesystems. In dieser Nr. 1 ist bestimmt: Ergeben sich 8, aber nicht mehr als 13 Punkte, so hat die Fahrerlaubnisbehörde den Betroffenen schriftlich darüber zu unterrichten, ihn zu verwarnen und ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach Absatz 8 hinzuweisen. Dem entsprach das Schreiben vom 23. 7.
aa) Nach den verwendeten Formulierungen „unterrichten“, „verwarnen“ und „hinzuweisen“ werden keine Rechtsfolgen ausgesprochen, sondern es werden lediglich Informationen übermittelt.
bb) Auch hier stellt sich wieder die Frage (ebenso wie oben a bb), ob sich eine Rechtsfolge daraus ergibt, dass die Bezugnahme auf einen bestimmten Punktestand Bindungswirkung für künftige Maßnahmen hat.
Bei Behandlung dieser Frage nimmt BVerwG Rdnr. 5, S. 1300, zunächst darauf Bezug, dass es in E 77, 268 den Eintragungen im Verkehrszentralregister keine Bindungswirkung zugesprochen hat, dies auch unter Berücksichtigung des damals noch in der StVZO geregelten Punktesystems. An dieser rechtlichen Einordnung hat sich nichts dadurch geändert, dass dieses Punktesystem inzwischen in § 4 StVG eine gesetzliche Grundlage erhalten hat. Nach wie vor ist die Fahrerlaubnisbehörde gem. § 4 III 2 StVG nur an rechtskräftige Entscheidungen über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gebunden; für das „Erreichen“ eines Punktestands ist…die Eintragung im Verkehrszentralregister oder die Mitteilung hierüber nicht ausschlaggebend. Allein die Straßenverkehrsbehörden haben zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen gegen den Fahrerlaubnisinhaber zu ergreifen sind; dabei müssen sie auch die Richtigkeit der Punktebewertung eigenständig überprüfen (BVerwGE 77, 268). Somit lässt sich eine Regelung nicht aus einer Bindungswirkung des Schreibens vom 23. 7. herleiten.
cc) Ein weiterer Gesichtspunkt, der für eine Regelungswirkung sprechen könnte, ist nicht ersichtlich. Somit ist auch ein Schreiben gemäß § 4 III Nr. 1 StVG kein VA. Das ist übrigens für den Betroffenen insofern günstig, als er nicht befürchten muss, dass die dort enthaltene Punktezahl bestandskräftig wird, wenn er keinen Rechtsbehelf einlegt. Er wird durch Verneinung des VA-Charakters nicht mit einer Anfechtungsobliegenheit belastet und kann noch später, wenn es darauf ankommt, geltend machen, die in dem Schreiben nach § 4 III Nr. 1 StVG angeführte Punktezahl sei unrichtig.
Ergänzende Hinweise zu der unter a bb) und b bb) behandelten Frage, ob Maßnahmen einer Behörde für eine andere bindend sind:
Nach BVerwGE 100, 83 ist die Abgeschlossenheitsbescheinigung der Baubehörde, die vor der Eintragung von Wohnungseigentum gemäß § 7 IV 1 Nr. 1 WEG dem Grundbuchamt vorgelegt werden muss, für das Grundbuchamt nicht bindend und deshalb kein VA; die Abgeschlossenheitserklärung hat nur den Charakter einer gutachtlichen Stellungnahme. Demgegenüber ist die Feststellung (Bescheinigung) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 VII 1 AufenthG für Ausländerbehörden und Gerichte bindend (BVerwG NVwZ 2006, 711). -
Ergebnis zu I.: Eine Anfechtungsklage ist weder gegen die Mitteilung vom 1. 7. noch gegen das Schreiben vom 23. 7. statthaft.
II. Es könnte eine (allgemeine) Leistungsklage statthaft sein.
1. Scheidet eine Anfechtungsklage deshalb aus, weil die den Kläger belastende Maßnahme kein VA, sondern schlichtes Verwaltungshandeln bzw. ein Realakt ist, kommt grundsätzlich eine Leistungsklage in Betracht. Verlangte Leistung könnte, wenn die belastende Maßnahme in einer schriftlichen Stellungnahme besteht, der Widerruf dieser Stellungnahme sein (vgl. BVerwGE 100, 85, 88), wobei es sich aber nicht um eine Widerruf i. S. des § 49 VwVfG handelt, sondern lediglich um einen faktischen Widerruf.
2. Im vorliegenden Fall besteht aber die Besonderheit, dass sich eine Klage des A gegen Maßnahmen richten würde, die lediglich dann von Bedeutung sind, wenn später ein VA (eine Entziehung der Fahrerlaubnis) erlassen wird. Der Sache nach wendet sich A deshalb gegen den drohenden Erlass eines VA, soweit dieser auf Tatsachen gestützt wird, die in den Schreiben vom 1. 7. und 23. 7. enthalten sind.
a) Der Rechtsschutz gegenüber einem VA ist in §§ 42, 68, 113, 80, 80a VwGO grundsätzlich abschließend geregelt.Eine vorbeugende Unterlassungsklage gegen einen VA ist deshalb nicht zulässig (BadWürtt VGH DVBl 1994, 1250). Dem von dem VA möglicherweise Betroffenen wird zugemutet, den Erlass des VA abzuwarten und nach dessen Erlass die dagegen zulässigen Rechtsmittel einzulegen.
b) Ausnahmsweise ist eine Unterlassungsklage gegen einen drohenden VA zulässig, wenn der VA nach Erlass nicht mehr aufhebbar wäre oder wenn er selbst oder sein Vollzug nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen schaffen würde (vgl. BVerwGE 101, 157/8). Dieser Ausnahmefall ist hier aber nicht gegeben. Sollte später einmal gegenüber A eine Fahrerlaubnisentziehung erfolgen, so hätte A die Möglichkeit, nach §§ 68, 42 VwGO Widerspruch und Anfechtungsklage zu erheben, dies mit aufschiebender Wirkung (§ 80 I VwGO). Im Falle der Anordnung des Sofortvollzugs könnte er einen Antrag gemäß § 80 V VwGO stellen.
Somit wäre eine Leistungsklage auf Widerruf der Schreiben vom 1. 7. und 23. 7. nicht zulässig.
III. Aus den unter II genannten Gründen scheiden auch eine Leistungsklage in Form einer Unterlassungsklage sowie eine Feststellungsklage aus.
Somit ist eine Klage weder gegen die Eintragung im Verkehrszentralregister und die Mitteilung vom 1. 7. noch gegen das Schreiben vom 23. 7. zulässig. Letzteres war Gegenstand des von BVerwG NJW 2007, 1299 entschiedenen Rechtsstreits, in dem sämtliche Instanzen, VG, VGH und BVerwG, in gleichem Sinne einer Nichtzulässigkeit der Klage entschieden haben.
Zusammenfassung