Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsbeschluss und Gesetz. Glaubensfreiheit, Art. 4 I, II GG. Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte.Verfassungsimmanente Schranken aus Verfassungsgütern und Grundrechten Dritter. Abwägung zwischen Glaubensfreiheit und kollidierenden Verfassungswerten; Verhältnismäßigkeit. Art. 3 II 1, III 1 GG: Diskriminierung wegen des Geschlechts

BVerfG
Beschluss vom 14. Januar 2020 (2 BvR 1333/17) NJW 2020, 1049

Fall (Kopftuchverbot im Referendardienst)

Frau F stammt aus Marokko, ist deutsche Staatsangehörige und hat nach Jurastudium und erstem juristischen Staatsexamen im Bundesland L den Referendardienst angetreten. Sie ist muslimischen Glaubens und trägt unter Berufung darauf in der Öffentlichkeit ein Kopftuch. Nachdem sie die Personalabteilung des für ihre Ausbildung zuständigen Landgerichts (LG) davon in Kenntnis gesetzt hatte, erhielt sie von dieser ein „Hinweisblatt“ mit folgendem, auf einem Erlass des Justizministeriums beruhenden Text: „Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare im juristischen Vorbereitungsdienst haben sich gegenüber Bürgerinnen und Bürgern politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Insbesondere dürfen sie keine Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale tragen, die geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden. Deshalb dürfen Referendarinnen und Referendare, die Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale in dem oben genannten Sinne tragen, bei Verhandlungen im Gericht nicht auf der Richterbank Platz nehmen, sondern können nur im Zuschauerraum sitzen, sie dürfen keine Sitzungsleitung oder Beweisaufnahmen durchführen, keine Sitzungsvertretung für die Staatsanwaltschaft abhalten und während der Verwaltungsstation keine Anhörung vornehmen.“ Begründet wurde das mit den folgenden Vorschriften.

Art. 140 Grundgesetz verweist auf Art. 136 I, IV, 137 I der Weimarer Reichsverfassung, wonach der Staat zu religiöser (und weltanschaulicher) Neutralität verpflichtet ist.

§ 26 Justizausbildungsgesetz des Landes L (JAG): Mit der Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst werden die Bewerberinnen und Bewerber in ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis berufen. § 27 JAG: Die Vorschriften des Landesbeamtengesetzes (LBG) gelten - mit Ausnahme der nur für Beamte auf Lebenszeit geltenden Vorschriften - für sie entsprechend.

§ 45 LBG: Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.

Gegen das Hinweisblatt erhob F Beschwerde beim LG, die vom Präsidenten des LG durch Bescheid zurückgewiesen wurde. Dagegen beantragte F Eilrechtsschutz im Verwaltungsrechtsweg, der aber ohne Erfolg blieb. In dem ablehnenden Beschluss führte der Verwaltungsgerichtshof (VGH) des Landes L aus, die zugrunde liegenden Vorschriften seien verfassungsmäßig und rechtfertigten das Hinweisblatt und dessen Anwendung. Anschließend hat F Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und diese damit begründet, durch die genannten Vorschriften und ihre Anwendung werde ihre Glaubensfreiheit und ihr Recht auf Ausbildung in unverhältnismäßiger Weise beschränkt. Es sei nicht zulässig, die für freiwillig übernommene Beamtenverhältnisse geltenden Beschränkungen auf ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis zu übertragen, das wegen des staatlichen Monopols zwangsweise von allen Bewerberinnen für juristische Berufe zu durchlaufen sei. Auch werde sie wegen ihres Geschlechts diskriminiert, weil Hauptzweck der beschränkenden Regelung sei, das Tragen eines Kopftuches durch Frauen zu unterbinden. Das Land L bestreitet diesen Zweck nicht und beruft sich darauf, aus religiösen Gründen getragene Kleidungsstücke gehörten nicht in einen Gerichtssaal und könnten bei den Verfahrensbeteiligten das Vertrauen in die Justiz schwächen.

Wie wird das BVerfG entscheiden? Es ist davon auszugehen, dass das Gericht keine über den Eilrechtsschutz hinausgehende Rechtswegerschöpfung verlangt.

Lösung

Vorbemerkungen: Der Originalfall spielte in Hessen; der VGH-Beschluss war ein Beschluss des VGH Kassel. Da der hier zu behandelnde Fall in das anonyme Land L verlegt wurde, wurden die hessischen Vorschriften durch die im Sachverhalt wiedergegebenen Vorschriften ersetzt. – Dem Beschluss des BVerfG ist eine abweichende Meinung (ein Sondervotum) des Richters Maidowski angefügt (NJW 2020, 1057). – Besprechungen des BVerfG-Beschlusses: Leitmeier NJW 2020, 1036; Classen JZ 2020, 417; Hecker NVwZ 2020, 423; Brosius-Gersdorf/Gersdorf NVwZ 2020, 428; von Schwanenflug NVwZ 2020, 474; Muckel JA 2020, 555.

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)

I. Beschwerdegegenstand der VfB muss ein Akt öffentlicher Gewalt (§ 90 I BVerfGG) sein, besser bezeichnet als Hoheitsakt. Ergangene Hoheitsakte sind im vorliegenden Fall die Vorschriften des JAG und LBG, das Hinweisblatt, der Beschwerdebescheid des LG sowie der Beschluss des VGH.

1. Letztlich wendet sich F gegen §§ 27 JAG, 45 Satz 2 LBG, wonach bei Gericht und in vergleichbaren Verfahren Kleidungsstücke untersagt sind, die geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen, was nach dem Hinweisblatt auf das Tragen eines Kopftuchs durch Referendarinnen zutrifft. Grundsätzlich ist eine gegen ein Gesetz gerichtete Rechtssatzverfassungsbeschwerde zulässig. Sie scheitert nicht am Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG), weil es gegenüber formellen Gesetzen keinen (einfachen) Rechtsweg gibt (vgl. § 93 III BVerfGG). Jedoch ist n ach § 93 II BVerfGG eine VfB gegen ein Gesetz nur innerhalb eines Jahres nach Erlass des Gesetzes zulässig; bei §§ 27 JAG, 45 LBG muss davon ausgegangen werden, dass diese Vorschriften schon länger als ein Jahr gelten. Vor allem kann ein Gesetz nur dann unmittelbarer Beschwerdegegenstand sein, wenn der Beschwerdeführer durch das Gesetz (selbst, gegenwärtig und) unmittelbar betroffen ist (BVerfGE 93, 319, 338; NVwZ 2004, 978). An einer unmittelbaren Betroffenheit fehlt es, wenn das Gesetz noch des Vollzugs bedarf oder wenn ein Vollzugsakt ergangen ist. Gegenüber F bedeuten das Hinweisblatt und die Zurückweisung ihrer Beschwerde durch das LG einen Vollzug, gegenüber dem sie folgerichtig den Verwaltungsrechtsweg beschritten hat. Folglich sind §§ 27 JAG, 45 LBG kein unmittelbarer Beschwerdegegenstand der VfB.

2. Hoheitsakt ist der Beschluss des VGH. Dessen Einordnung in die VfB-Prüfung ist nicht von vornherein klar: Bei einer formalen Betrachtungsweise könnte der Beschluss als Akt des nach § 90 II 1 BVerfGG vorgeschriebenen Rechtswegs gegen das Hinweisblatt und dessen Aufrechterhaltung durch den Beschwerdebescheid des LG-Präsidenten eingeordnet werden; dann wären das Hinweisblatt und der Beschwerdebescheid Hoheitsakte i. S. des § 90 I BVerfGG. Das BVerfG-behandelt aber den VGH-Beschluss als den primär anzugreifenden Hoheitsakt, was durch die Bedeutung und das Gewicht dieses Beschlusses gerechtfertigt ist. Folglich ist die VfB eine Urteilsverfassungsbeschwerde. Da der VGH-Beschluss das Hinweisblatt und den Beschwerdebescheid und damit die darin liegende Untersagung bestätigt, haben das Hinweisblatt und der Beschwerdebescheid keine selbstständige Bedeutung mehr und brauchen deshalb nicht als Hoheitsakte i. S. des § 90 I BVerfGG zum (weiteren) Prüfungsgegenstand der VfB gemacht zu werden.

3. Der VGH-Beschluss stützt sich auf §§ 27 JAG, 45 LBG. Seine Rechtmäßigkeit hängt deshalb von der Verfassungsmäßigkeit und Rechtswirksamkeit dieser Vorschriften ab, was innerhalb der VfB zu einer Inzidenter-Prüfung dieser Vorschriften führt. Sind diese Vorschriften verfassungswidrig, so verletzt auch der VGH-Beschluss Grundrechte der F. Dieses Prüfprogramm entspricht der Regelung in § 95 II 1, III 2 BVerfGG, wo bestimmt ist, dass im Falle der Begründetheit einer gegen eine Entscheidung gerichteten VfB die Entscheidung aufgehoben und ein verfassungswidriges Gesetz, auf dem die Entscheidung beruht, für nichtig erklärt wird. In solchem Fall ist die VfB zwar formal eine Urteils-VfB, ihr sachlicher Schwerpunkt liegt aber in der Prüfung der Rechtsgrundlagen. Deshalb richtet das BVerfG in einem solchen Fall und auch im vorliegenden Fall die VfB 1.) unmittelbar gegen den VGH-Beschluss, 2.) mittelbar gegen §§ 27 JAG, 45 LBG (vgl. BVerfG [1]). Dabei handelt es sich um einen einheitlichen Eingriff und Prüfungsgegenstand, es erfolgt also nicht etwa eine zweigeteilte Prüfung (vgl. unten B). Erst wenn die Begründetheit der VfB feststeht, kommt es beim Tenor zu einer Aufteilung, weil neben der Aufhebung des angegriffenen Urteils bzw. Beschlusses (§ 95 II BVerfGG) auch das zugrunde liegende Gesetz für nichtig erklärt wird (§ 95 III 2 BVerfGG).

II. Die Beschwerdeführerin muss geltend machen, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG).

1. Indem F ausführt, durch die angegriffenen Vorschriften und ihre Anwendung werde ihre Glaubensfreiheit und ihr Recht auf Ausbildung in unverhältnismäßiger Weise beschränkt, macht sie eine Verletzung ihrer Grundrechte geltend.

2. Richtet sich die VfB gegen ein Urteil, reicht für die Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung und für die Verletzung selbst nicht aus, dass das ein Grundrecht beschränkende einfache Gesetz nicht zutreffend angewendet worden sei, vielmehr muss bei einer Urteils-VfB eine spezifische Verfassungsverletzung gerügt werden (BVerfGE 18, 85, 92; 95, 96, 128; NJW 2018, 2385 [69-71]; Johann NJW 2019, 1928). Diese Voraussetzung wird im vorliegenden Fall dadurch erfüllt, dass sich die VfB letztlich gegen die Verfassungsmäßigkeit der §§ 27 JAG, 45 LBG richtet. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist stets eine verfassungsspezifische Frage und unterliegt der Prüfung durch das BVerfG (wie auch Art. 100 GG bestätigt).

III. Nach § 90 II 1 BVerfGG ist vor der Erhebung der VfB der Rechtsweg auszuschöpfen. F hat um Rechtsschutz im Eilverfahren (§§ 80 V, 123 VwGO) nachgesucht. Ob das für § 90 II 1 BVerfGG ausreicht oder ob noch eine Klage - möglicherweise in drei Instanzen - durchgeführt werden muss, kann offen bleiben, weil nach der Aufgabenstellung das BVerfG keine über den Eilrechtsschutz hinausgehende Rechtswegerschöpfung verlangt. Dazu ist es nach § 90 II 2 BVerfGG berechtigt. Es kann davo ausgehen, dass die Streitentscheidung von allgemeiner Bedeutung ist oder dass F ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, wenn sie eine Entscheidung erst lange nach Ende ihrer Ausbildung erhält.

IV. Davon, dass die formellen Anforderungen an die VfB (Schriftform, § 23 BVerfGG; Begründung, § 92 BVerfGG; Monatsfrist, § 93 I 1 BVerfGG) eingehalten wurden, ist auszugehen. Folglich ist die VfB zulässig.

B. Begründetheit der VfB

Die VfB ist begründet, wenn F durch den Beschluss des VGH in einem Grundrecht verletzt wird.

I. F könnte in ihrem Grundrecht auf Glaubensfreiheit verletzt sein. Dieses ergibt sich aus Art. 4 I, II GG, dessen zwei Absätze ein einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit bilden (BVerfG [78] m. w. N.).

BVerfG [79] Die Bf. kann sich auch als in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis stehende Rechtsreferendarin auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Ihre Grundrechtsberechtigung wird durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. für Beamte BVerfGE 108, 282, 297, für Angestellte im öffentlichen Dienst BVerfGE 138, 296, 328 Rn. 84;…).

1. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts erfolgt sein.

a) Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit erstreckt sich nach BVerfG [78] nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben (…). Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens (…). Dazu gehört das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben.

[80] Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich dafür auch im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Darauf, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot vertreten werden (vgl. Steinberg, Zwischen Grundgesetz und Scharia, 2018, S. 96-98 m. w. N.), kommt es nicht an, da die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung jedenfalls hinreichend plausibel ist.

b) Eingriffsakt ist der Beschluss des VGH, da er die Regelung des Hinweisblatts und die Beschwerdeentscheidung des LG aufrechterhält und damit bestätigt. Das darin liegende Verbot, bei bestimmten Tätigkeiten während der Referendarausbildung ein Kopftuch zu tragen, bedeutet einen Eingriff. BVerfG [77] Die der Bf. auferlegte und vom VGH bestätigte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentantin des Staates wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden könnte, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Sie stellt die Bf. vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.

2. Art. 4 I, II GG ist nicht verletzt, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist.

a) Art. 4 I, II GG steht nicht unter einem Gesetzesvorbehalt, ist also vorbehaltlos gewährleistet (vorbehaltlos sind auch gewährleistet: die Gewissensfreiheit, Art. 4 I; die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Art. 5 III; das Sich-Versammeln in geschlossenen Räumen, Art. 8 I). Vorbehaltlos heißt aber nicht schrankenlos; vielmehr ergeben sich die Schranken aus anderen Vorschriften der Verfassung. BVerfG [82] Einschränkungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil dieses Grundrecht keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 28, 243, 260 f.; 41, 29, 50 f.; 41, 88, 107; …138, 296, 333 Rn. 98). Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang können als Verfassungswerte zusammengefasst werden. Zwischen ihnen und dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht muss eine Kollisionslage bestehen, d. h. es darf nicht möglich sein, den anderen Verfassungswert und das Grundrecht nebeneinander uneingeschränkt zu schützen und zu verwirklichen. Folglich sind Voraussetzungen für die Rechtfertigung eines Eingriffs in ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht ein anderer Verfassungswert, dessen erforderlicher Schutz mit dem Schutz des Grundrechts kollidiert, und der sich nach einer Abwägung mit dem Grundrecht als höherwertig erweist.

b) BVerfG [82] Die Einschränkung bedarf überdies einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 108, 282, 297). Gesetzliche Grundlage im vorliegenden Fall sind §§ 27 JAG, 45 LBG. Diese Vorschriften rechtfertigen die Einschränkung aber nur, wenn sie verfassungsmäßig sind.

aa) Die Gesetzgebungskompetenz des Landes L zu ihrem Erlass ergibt sich aus Art. 70 I GG.

bb) Zur rechtsstaatlich geforderten Bestimmtheit führt BVerfG [85] aus: Nach der Rechtsprechung des BVerfG fehlt die notwendige Bestimmtheit nicht schon deshalb, weil eine Norm auslegungsbedürftig ist (…). Dem Bestimmtheitserfordernis ist vielmehr genügt, wenn die Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können (…). Es ist in erster Linie Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane, Zweifelsfragen zu klären und Auslegungsprobleme mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode zu bewältigen (…). Dass dies vorliegend nicht möglich wäre, ist nicht erkennbar. Insbesondere wird von F nicht bezweifelt, dass § 45, 2 LBG mit der Formulierung „Kleidungsstück, das …objektiv geeignet ist, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen“, das muslimische Kopftuch meint.

cc) In materieller Hinsicht dürfen §§ 27 JAG, 45 LBG das Grundrecht des Art. 4 I, II GG nicht verletzen.

(1) Die Vorschriften enthalten einen Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit. Dabei kann zur Begründung auf oben B I 1 verwiesen werden, da die dort auf den Fall der F bezogenen Ausführungen sich auf alle muslimischen Referendarinnen mit Kopftuch übertragen lassen. Zwar hat § 45 LBG einen noch weitergehenden Inhalt, gegen dessen Verfassungsmäßigkeit bestehen aber keine Bedenken. Die Prüfung im vorliegenden Fall kann sich deshalb auf das Kopftuchverbot beschränken.

(2) Eine Rechtfertigung des Eingriffs durch Gesetz ist nur aufgrund immanenter Schranken möglich. Die oben B I 2 a) aufgestellten Voraussetzungen gelten sowohl für den Eingriff durch den VGH-Beschluss als auch für den Eingriff durch §§ 27 JAG, 45 LBG. Da §§ 27 JAG, 45, 2 LBG abstrakt-generell das Tragen eines Kopftuchs bei einer bestimmten Amtsführung untersagt und der VGH-Beschluss dieses Verbot gegenüber F wiederholt, ist eine gemeinsame Rechtfertigungsprüfung für das Gesetz und für den VGH-Beschluss möglich und wird nachfolgend unter 3. vorgenommen.

(Auch BVerfG [86-106] nimmt nur eine Rechtfertigungsprüfung vor. Dabei wird aber nicht deutlich, dass neben der Rechtfertigung des Eingriffs durch den VGH-Beschluss auch die Rechtfertigung des Eingriffs durch Gesetz (§ 45 LBG) zu prüfen ist. Vielmehr ergibt sich aus den unten unter 3 b aa) wiedergegebenen Ausführungen des BVerfG, dass dieses die Rechtfertigung ausschließlich auf der Ebene des Einzelfalles, also zwischen F und dem VGH-Beschluss prüft. Dass unter [101, 102] auf die „Entscheidung des Gesetzgebers“ abgestellt wird, ist keine ausreichende Prüfung. Classen JZ 2020, 418 kritisiert zu Recht die unvollständige Inzidenter-Prüfung des § 45 LBG durch das BVerfG.)

3. Ausgangsüberlegung für die Rechtfertigung sowohl der §§ 27 JAG, 45 LBG als auch des VGH-Beschlusses ist der unter B I 2 a) a. E. enthaltene Obersatz. Danach erfordert die Rechtfertigung einen anderen Verfassungswert, dessen erforderlicher Schutz mit dem Schutz des Grundrechts kollidiert, und der nach einer Abwägung mit dem Grundrecht höherwertig ist.

a) BVerfG [86] Als mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden Zusammenhang rechtfertigen können, kommen der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität (aa), der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege (bb) und eine Kollision mit der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter (cc) in Betracht.

aa) BVerfG [87-90] Das GG begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs.1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger… Er darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren…

Die Verpflichtung des Staates auf Neutralität kann keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen handeln (…). Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen… Nimmt der Staat aber auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss, so sind ihm abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger eher zurechenbar (…). So liegen die Dinge im vorliegenden Fall. Um das Vertrauen in die Neutralität und Unparteilichkeit der Gerichte zu stärken, haben Bund und Länder nicht nur das Verfahren während der mündlichen Verhandlung in den jeweiligen Prozessordnungen detailliert geregelt. Zum Selbstbildnis des Staates gehören auch die Verpflichtung der Richterinnen und Richter, eine Amtstracht zu tragen sowie überkommene Traditionen wie das besondere Eintreten des Spruchkörpers in den Sitzungssaal, das Erheben bei wichtigen Prozesssituationen oder die Gestaltung des Gerichtssaals. Das unterscheidet die formalisierte Situation vor Gericht, die den einzelnen Amtsträgern auch in ihrem äußeren Auftreten eine klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle zuweist, vom pädagogischen Bereich der Schule, der auf Offenheit und Pluralität angelegt ist (…). Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden (vgl. Schwabe DVBl 2015, 570, 571; Volkmann Jura 2015, 1083,1085; Eckertz-Höfer DVBl 2018, 537,544; a. A. Ladeur/Augsberg JZ 2007, 12,16;…).

Da die Prozessbeteiligten nicht stets erkennen, dass es sich um eine nur zur Ausbildung tätige Referendarin handelt (insbesondere wenn sie eine Robe trägt, dazu v. Schwanenflug NVwZ 2020, 474; BVerfG [104]), wird auch ihr Auftreten ebenso wie das der Richterinnen und Staatsanwältinnen dem Staat zugerechnet. Dann steht das Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Gründen im Widerspruch zum Gebot des Staates zur religiösen Neutralität. (Anders Brosius-Gersdorf/Gersdorf NVwZ 2020, 428/9, die die Grundrechtsausübung der Amtsträger nicht dem Staat zurechnen.)

bb) BVerfG [91, 92] Weitere verfassungsimmanente Schranke der Religionsfreiheit ist die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die zu den Grundbedingungen des Rechtsstaats zählt (vgl. BVerfGE 34, 238, 248 f.; 80, 367, 375; …141, 121,134 f. Rn. 44…) und im Wertesystem des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 92 GG) fest verankert ist, da jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient (vgl. BVerfGE 33, 23, 32). Funktionsfähigkeit setzt voraus, dass das gesellschaftliche Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert (…). Dieses Vertrauen ist unabhängig vom konkreten Streitfall erforderlich und kann durch eine Vielzahl von Umständen gestärkt oder beeinträchtigt werden…

Auch wenn das religiöse Bekenntnis einzelner Amtsträger allein nicht gegen deren sachgerechte Amtswahrnehmung spricht, kann die erkennbare Distanzierung des einzelnen Richters und der einzelnen Richterin von individuellen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei Ausübung ihres Amtes zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen und ist umgekehrt die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen, das gerade durch eine besondere persönliche Zurücknahme der zur Entscheidung berufenen Amtsträger geprägt ist.
(Auch insoweit a. M. Brosius-Gersdorf/Gersdorf NVwZ 2020, 430/1.)

cc) Ein Grundrecht, das zu einer weiteren immanenten Schranke führen kann, ist die negative Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten.

BVerfG [94, 95] Dem durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Recht zur Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet, entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art. 4 Abs. 1 GG überlässt es dem Einzelnen, zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist (BVerfGE 93, 1, 15 f.; 138, 296, 336 Rn. 104… ).

Der Gerichtssaal stellt einen solchen Raum dar, in dem der Anblick religiöser Symbole im vorgenannten Sinne unausweichlich sein kann, wenn der Staat ihre Verwendung nicht untersagt. Hiermit kann für einzelne Verfahrensbeteiligte eine Belastung einhergehen, die einer grundrechtlich relevanten Beeinträchtigung gleichkommt (…). Anders als im Bereich der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, in der sich gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll (vgl. BVerfGE 138, 296, 337 Rn. 105), tritt der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber (vgl. Steinberg, Der Staat 56, 2017, 157, 174; Häberle, Der Staat 57, 2018, 35, 56; a. A. Muckel NVwZ 2017, 1132, 1133;…). Das gilt auch, wenn die Verwendung des religiösen Symbols - wie im Fall des Kopftuchs - auf der privaten Entscheidung des für den Staat handelnden Amtsträgers beruht. Nur der Staat besitzt die Möglichkeit, die ansonsten unausweichliche Konfrontation mit dem Kopftuch als religiösem Symbol im Gerichtssaal zu verhindern (vgl. Röhrig, Religiöse Symbole in staatlichen Einrichtungen als Grundrechtseingriffe, 2017, S. 205 ff.).

b) Nach dem Obersatz oben 3. hat nunmehr eine Abwägung zwischen Art. 4 I, II GG und den drei beeinträchtigten Verfassungswerten stattzufinden. Es stellt sich aber auch die Frage, ob es einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit bedarf, die grundsätzlich bei jedem Grundrechtseingriff zu prüfen ist.

aa) Das BVerfG [103-106] beschränkt sich auf eine Abwägung im konkreten Fall.

(1) Für die Position der Bf. spricht, dass das Kopftuch für sie nicht lediglich ein Zeichen für ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe ist, welches – wie etwa das Kreuz an einer Halskette – jederzeit abgenommen werden könnte. Vielmehr stellt das Tragen für sie die Befolgung einer als verbindlich empfundenen Pflicht dar; eine Pflicht, für die es insbesondere im Christentum kein entsprechendes, derart weit verbreitetes Äquivalent gibt. Das allgemeine Verbot religiöser Bekundungen trifft die Bf. daher härter als andere religiös eingestellte, insbesondere christliche Staatsbedienstete. Beamte und Richter haben sich zudem in der Regel in Kenntnis der bestehenden Reglementierungen bewusst und freiwillig für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst entschieden. Juristen, die das Zweite Staatsexamen anstreben, bleibt hingegen kein anderer Weg zur Erreichung dieses Ziels als die Absolvierung des Rechtsreferendariats.

(2) Für die Verfassungsmäßigkeit des streitgegenständlichen Verbots spricht der Umstand, dass sich das Verbot auf wenige einzelne Tätigkeiten beschränkt, bei denen der Staat den verfassungsrechtlichen Neutralitätsvorgaben den Vorrang eingeräumt hat. Dies gilt, soweit Referendare mit richterlichen Aufgaben betraut werden, bei der Wahrnehmung des staatsanwaltschaftlichen Sitzungsdienstes und bei der Übernahme justizähnlicher Funktionen wie hier der Leitung einer Anhörung während der Verwaltungsstation. Sie haben insofern ebenso wie die Beamten der Staatsanwaltschaft oder – in diesem besonderen Teilbereich – der allgemeinen Verwaltung die Werte, die das Grundgesetz der Justiz zuschreibt, zu verkörpern.

Etwas überraschend sieht das BVerfG, obwohl es unter [101] eine eingehende gerichtliche Kontrolle verlangt, von einer eigenen Abwägungsentscheidung ab und billigt die vom Gesetzgeber getroffene Regelung. [101, 102] Das normative Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsgütern unter Berücksichtigung des Toleranzgebots aufzulösen, obliegt zuvörderst dem demokratischen Gesetzgeber… Nach den Überlegungen(1) und (2) kommt keiner der kollidierenden Rechtspositionen ein derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, der Bf. das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechtsreferendariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren (vgl. auch Volkmann Jura 2015, 1083, 1087, 1090; Tomuschat, EuGRZ 2016, 6, 10…). [106] Folglich basiert der Beschluss des VGH auf einer verfassungsgemäßen Anwendung des § 27 JAG in Verbindung mit § 45 LBG.

bb) Demgegenüber enthält das Sondervotum unter [8-22] eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Diese sollte jedoch nicht selbstständig erfolgen, sondern mit der Prüfung des Obersatzes oben 3. verbunden werden. Dabei können die Prüfung der legitimen Ziele und der Geeignetheit an dieser Stelle entfallen. Denn die oben B I 3a) festgestellte Kollision zwischen Verfassungswerten und Grundrecht bedeutet bereits, dass der Schutz der Verfassungswerte ein legitimes Ziel ist und dass die Auflösung der Kollision zum Schutz der Verfassungswerte geeignet ist. Aus dem Obersatz oben 3. zu prüfen bleiben die Erforderlichkeit und die wesentlich aus einer Abwägung bestehende Angemessenheit.

(1) Das Sondervotum [21, 22] sieht ein die Erforderlichkeit ausschließendes milderes Mittel darin, „einer möglichen Identifizierung des Staates mit der Glaubensüberzeugung einer muslimischen Rechtsreferendarin dadurch wirksam zu begegnen, dass in jedem Einzelfall gegenüber den Verfahrensbeteiligten oder der Öffentlichkeit auf die Rechtsstellung der im justiziellen Bereich mit Kopftuch auftretenden Referendarin und damit auf das bestehende Ausbildungsverhältnis ausdrücklich hingewiesen und die damit verbundene Problematik bei Bedarf erläutert wird.… Eine solche Kennzeichnung hat zur Folge, dass den Verfahrensbeteiligten und der anwesenden Öffentlichkeit klar vor Augen steht, dass sie keine unabhängige Richterin oder Amtsträgerin der Staatsanwaltschaft vor sich haben, die ihre Religionszugehörigkeit deutlich zu erkennen gibt, sondern eine Ausbildungssituation unter Verantwortung und Aufsicht von Gericht und Staatsanwaltschaft.“ Jedoch geht ein solcher Ratschlag „an der Lebenswirklichkeit vorbei“ (v. Schwanenflug NVwZ 2020, 474), weil eine solche Belehrung das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Korrektheit des Verfahrens eher mindern als stärken könnte und außerdem die Referendarin eine für sie abträgliche Sonderrolle gedrängt wird. Ein anderes milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Die Erforderlichkeit der Regelung ist somit zu bejahen.

(2) Bei der für die Angemessenheit wesentlichen Abwägung sprechen einerseits zugunsten der Glaubensfreiheit die Überlegungen des BVerfG oben B I 3 aa (1), wonach das Kopftuchverbot eine vergleichbar härtere Belastung ist und das Referendariat für Juristen, die das Zweite Staatsexamen anstreben, zwingend ist, während Beamte und Richter freiwillig in den Dienst getretenen sind. Möglicherweise fällt auch die Feststellung im Sondervotum [14] ins Gewicht, dass die von einer Referendarin mit Kopftuch ausgehende Gefahr für die beeinträchtigten Verfassungswerte nur gering ist. Andererseits spricht zugunsten des Kopftuchverbots, dass den damit geschützten Verfassungswerten, insbesondere dem Funktionieren der Rechtspflege, ein hoher Rang zukommt. Die zu ihrem Schutz der Referendarin zugemuteten Belastungen betreffen nur wenige Tätigkeiten und lassen ihr überdies die Wahl, kurzfristig vom Tragen des Kopftuchs abzusehen oder an diesen Ausbildungshandlungen nicht aktiv teilzunehmen. Das Tragen des Kopftuchs bleibt selbst in den meisten Phasen der Referendartätigkeit zulässig, im Privatleben ohnehin. Auch eine muslimische Juristin hat diesen Beruf freiwillig ergriffen und wissen müssen, dass er mit Beschränkungen verbunden ist. Letztlich dient der Verzicht auf die Verwendung der religiösen Bekundung dem auch und gerade für den Beruf der späteren Volljuristin wichtigen Schutz der Rechtspflege. Danach lässt sich ein Überwiegen der von § 45 Satz 2 LBG geschützten Verfassungswerte feststellen. (Auch eine andere Gewichtung ist möglich, so wie im Sondervotum [13, 17] und bei Leitmeier NJW 2020, 1038.)

Dieses Ergebnis beruht - im Unterschied zum BVerfG oben B I 3 b aa) - auf einer eigenen Abwägungsentscheidung, die aber zum selben Ergebnis kommt wie das BVerfG und dahingeht, dass der Eingriff in Art. 4 I, II GG gerechtfertigt ist und weder §§ 27 JAG, 45 LBG noch der Beschluss des VGH Art. 4 I, II GG verletzen.

II. Art. 12 I 1 GG umfasst auch das Recht auf Ausbildungsfreiheit.

1. BVerfG [108-110] Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, die Ausbildungsstätte frei zu wählen… Über das – hier nicht in Rede stehende – Recht auf Zugang zu einer Ausbildungsstätte hinaus schützt Art. 12 Abs. 1 GG die im Rahmen der Ausbildung notwendigen Tätigkeiten (…). Hierzu zählt vorliegend auch die Wahrnehmung sitzungsdienstlicher Aufgaben bei Gericht, Staatsanwaltschaft und Verwaltung…. Das gegen die Bf. ausgesprochene und im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren bestätigte Verbot, die genannten sitzungsdienstlichen Aufgaben mit Kopftuch wahrzunehmen, greift in diesen Gewährleistungsgehalt ein.

2. Die Grundrechte des Art. 12 I 1 GG unterfallen aber, in unterschiedlich starkem Maße, dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 I 2 GG. Dieser rechtfertigt die Eingriffe durch §§ 27 JAG, 45 LBG. Die Verhältnismäßigkeit folgt aus den Argumenten oben B I 3, ohne dass es einer verfassungsimmanenten Schranke bedarf. [110] Die Ausbildungsfreiheit garantiert keinen weitergehenden Schutz als die schrankenlos gewährleistete Religionsfreiheit. Selbst unter der Annahme, dass im Einzelfall die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) betroffen wäre, wenn ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot in Frage steht, wären die vom Landesgesetzgeber verfolgten Ziele der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und des Schutzes der negativen Religionsfreiheit Dritter besonders gewichtige Gemeinschaftsbelange, die die Regelung rechtfertigen.

III. Mit dem Vorbringen der F, sie werde wegen ihres Geschlechts diskriminiert, weil Hauptzweck der beschränkenden Regelung sei, das Tragen eines Kopftuches durch Frauen zu unterbinden, rügt sie eine Verletzung des Grundrechts auf Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung (Art. 3 II 1, III GG). BVerfG [113]

1. Zwar dürfte das § 45 Satz 2 LBG zu entnehmende Verbot bestimmter, insbesondere religiös konnotierter Kleidungsstücke faktisch ganz überwiegend muslimische Frauen treffen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen (vgl. BVerfGE 138, 296, 354 Rn.143). Jedoch ist § 45 Satz 2 LBG lediglich als Konkretisierung der grundlegenden Norm des § 45 Satz 1 LBG konzipiert („insbesondere“), der Beamtinnen und Beamte gleichermaßen zu politisch, weltanschaulich und religiös neutralem Verhalten verpflichtet…Danach liegt eine Ungleichbehandlung nicht vor.

2. Soweit man der Norm eine mittelbar diskriminierende Wirkung beimessen wollte, wäre diese aus denselben Gründen zu rechtfertigen, die einen Eingriff in Art. 4 GG tragen (vgl. BVerfGE 138, 296, 354 Rn. 145).

Ergebnis: Weder §§ 27 JAG, 45 LBG noch der Beschluss des VGH verletzen F in einem Grundrecht. Die VfB ist zwar zulässig, aber unbegründet und wird zurückgewiesen.

Ergänzende Hinweise: Das für die Justiz in Bayern geltende Kopftuchverbot wurde vom BayVerfGH DVBl 2020, 428 bestätigt. – Zu Vollverschleierungsverboten im Bildungs- und Erziehungsbereich Edenharter DÖV 2018, 351; zum Kopftuchverbot für Minderjährige in der Schule Schwarz NVwZ 2020, 265; Dogan NVwZ 2020, 289.


Zusammenfassung