Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
Die folgende Entscheidung betrifft das Thema ► Sterbehilfe (in der Form einer „Hilfe zum Sterben“, nicht: „beim Sterben“).Hierzu finden sich im Gesetz kaum klare Regelungen. Verbindliche Vorgaben können deshalb nur von der Rechtsprechung kommen. Ein wichtiger Beschluss hierzu war BGHZ 154, 205 = NJW 2003, 1588, auf den der BGH in der nachfolgenden Entscheidung zurückkommt. Der hier zu behandelnde Beschluss ist ein weiterer Schritt zur Klärung. Es handelt sich um einen bloßen Kostenbeschluss. Das hat den Nachteil, dass nur eine summarische und nicht alle Fragen entscheidende Prüfung erfolgt, andererseits den Vorteil, dass die wesentliche Punkte kurz und übersichtlich dargelegt werden.
►Künstliche Ernährung als Eingriff in die körperliche Integrität; Unterlassungsanspruch analog §§ 1004 I 2, 823 I BGB. ► Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen auf Verlangen des Arztes und Betreuers, Genehmigung durch Vormundschaftsgericht ? ► Recht des Pflegeheims auf Verweigerung der Sterbehilfe nach Heimvertrag und Art. 1 I, 2 I, 4 I GG
BGH Beschluss vom 8. 6. 2005 (XII ZR 177/03) NJW 2005, 2385
Fall (Klage auf Sterbenlassen des Wachkomapatienten)
Patient P litt als Folge eines Selbstmordversuchs an einem apallischen Syndrom im Sinne eines Wachkomas und war seit mehr als drei Jahren nicht ansprechbar. Er wurde im H-Heim gepflegt und künstlich ernährt (mit einer sog. PEG-Sonde). Vater V war als Betreuer bestellt. Zu seinem Aufgabenkreis gehörte die „Sorge für die Gesundheit und die Vertretung gegenüber Dritten“. Behandelnder Arzt war Dr. A. Als A sich davon überzeugt hatte, dass Besserung nicht zu erwarten war, ordnete er auf Wunsch des V an, die künstliche Ernährung einzustellen und die Zuführung von Flüssigkeit über die Magensonde zu reduzieren. Außerdem wurden weitere Maßnahmen der palliativ-medizinischen Versorgung angeordnet, insbesondere zur Verhinderung von Schmerzen des P. Bei Durchführung der Maßnahmen wäre P in etwa 8 – 10 Tagen gestorben. Das H-Heim weigerte sich unter Berufung auf den Heimvertrag und die Gewissensfreiheit des Heimpersonals, diese Maßnahmen durchzuführen; außerdem verlangte es eine Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht. Daraufhin hat V im Namen des P Klage gegen den Träger des Heims (künftig: H) auf Unterlassung der künstlichen Ernährung und auf Befolgung der Anweisung des Dr. A erhoben. Während dieses Verfahrens ist P auch ohne lebensbeendende Maßnahmen verstorben. V und H haben die Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, die Kosten des Klageverfahrens jeweils der anderen Partei aufzuerlegen.
BGH S. 2385 unter II: Gemäß § 91 a ZPO hat der Senat nur noch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden. Diese Entscheidung hat zwar den bisherigen Sach- und Streitstand zu berücksichtigen. Sie erfolgt aber zugleich auch nach billigem Ermessen. Der Senat kann sich deshalb auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage beschränken…
Für die Klage bestanden Erfolgsaussichten, wenn P als der durch V vertretene Kläger gegen den Beklagten H einen Anspruch auf Einstellung der künstlichen Ernährung und auf Durchführung der hierfür erforderlichen begleitenden Maßnahmen hatte.
A. Ein Anspruch aus dem Heimvertrag (vom BGH nicht geprüft) ist nicht ersichtlich. Der Heimvertrag ist gerade auf Pflege und Lebenserhaltung gerichtet und enthält keine auf das Sterbenlassen, also auf das Gegenteil zielende Verpflichtung des H. Ohne dahingehenden Anhaltspunkt kann er auch nicht in diese Richtung ausgelegt werden.
B. Anspruchsgrundlage können §§ 1004 I 2, 823 I BGB analog sein. (Zu dieser Anspruchsgrundlage oben den Fall „Lebensschützer gegen Abtreibungsarzt“.) Als Rechtsgut kommt die körperliche Unversehrtheit in Betracht. Der Unterlassungsanspruch greift im vorliegenden Fall ein, wenn H im Zeitpunkt nach der Aufforderung durch V und der Anordnung des Dr. A die körperliche Unversehrtheit des P verletzt hat, d. h. in diese ohne rechtfertigenden Grund eingegriffen hat.
I. Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist gegeben, wenn dieser faktisch erfolgt und nicht von einer notwendigen Einwilligung des P gedeckt ist.
1. BGH S. 2385 unter a): Die mit Hilfe einer Magensonde durchgeführte künstliche Ernährung ist ein Eingriff in die körperliche Integrität, der deshalb der Einwilligung des Patienten bedarf (vgl. BGHZ 154, 205 = NJW 2003, 1588). Eine gegen den erklärten Willen des Patienten durchgeführte künstliche Ernährung ist folglich eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient analog § 1004 I 2 i. V. mit § 823 I BGB verlangen kann. Dies gilt auch dann, wenn die begehrte Unterlassung – wie hier – zum Tode des Patienten führen würde. Das Recht des Patienten zur Bestimmung über seinen Körper macht Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend wirken, unzulässig (BGH NJW 2003, 1588).
2. Somit ist entscheidend, ob die Behandlung des P durch das Personal des H gegen den Willen des P erfolgte.
a) Einen eigenen Willen hat P nicht erklärt, insbesondere nicht durch eine sog. Patientenverfügung (dazu BGH NJW 2003, 1588). Er ist inzwischen auch nicht mehr zur Erklärung eines eigenen Willens in der Lage.
b) In solchem Fall können die Angehörigen oder, wie im vorliegenden Fall, ein bestellter Betreuer die maßgebende Erklärung abgeben (zum Maßstab hierfür BGHZ NJW 2003, 1588 LS 1). BGH S. 2385 unter aa): Der Vater des Kl. war in den Aufgabenkreisen, für die er zum Betreuer des Kl. bestellt worden war, dessen gesetzlicher Vertreter (§ 1902 BGB). Zu den ihm übertragenen Aufgabenkreisen, die unter anderem die „Sorge für die Gesundheit und die Vertretung gegenüber Dritten“ umfasste, gehörte auch die Entscheidung, ob und inwieweit in die körperliche Integrität des Kl. eingegriffen werden darf. Der Betreuer hat dem Willen des Kl. in eigener rechtlicher Verantwortung und nach Maßgabe des § 1901 BGB Geltung zu verschaffen (BGH NJW 2003, 1588). Seine Anordnung, die weitere künstliche Ernährung des Kl. zu unterlassen, war deshalb gegenüber der Bekl. und ihrem Pflegepersonal bindend. Eine eigene Prüfungskompetenz, ob und inwieweit die getroffene Entscheidung der von § 1901 II – IV BGB normierten Pflichtenbindung gerecht wird, stand der Bekl. nicht zu; sie ist insoweit – wie jeder Dritte auch – auf die Möglichkeit beschränkt, beim Vormundschaftsgericht eine Überprüfung des Betreuerhandelns mit dem Ziel aufsichtsrechtlicher Maßnahmen nach § 1908 I 1 i. V. mit §§ 1837 I – III, 1836 BGB anzuregen.
c) Die Anordnung des V könnte allerdings für H nicht verbindlich sein, weil eine Zustimmung des Vormundschaftsgerichts erforderlich war. Eine solche hatte der BGH in NJW 2003, 1588 unter bestimmten Voraussetzungen zwar nicht analog § 1904 BGB, aber „aus einem unabweisbaren Bedürfnis des Betreuungsrechts“ heraus für erforderlich erklärt. Voraussetzung ist aber, dass der Betreuer einer vom Arzt angeordneten lebensverlängernden Maßnahme widerspricht. BGH S. 2385 unter bb): Wie der Senat (NJW 2003, 1588) dargelegt hat, ist das VormG nur dann zu einer Entscheidung berufen, wenn der einen einwilligungsunfähigen Patienten behandelnde Arzt eine lebenserhaltende oder –verlängernde Maßnahme für medizinisch geboten oder vertretbar erachtet und sie deshalb „anbietet“ und der Betreuer sich diesem Angebot verweigert. Ein solcher, die Kontrollzuständigkeit des VormG auslösender Konflikt bestand hier nicht. Der Betreuer und der behandelnde Arzt hatten sich übereinstimmend gegen eine weitere künstliche Ernährung des Kl. entschieden. Das Beharren des Bekl., die künstliche Ernährung entgegen der ärztlichen Anordnung fortzusetzen, begründete keine dem Widerstreit von ärztlicher Empfehlung und Betreueranordnung vergleichbare Konfliktsituation.
Somit erfolgte die Zwangsernährung gegen den Willen des P, was sich grundsätzlich als rechtswidriger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt.
II. Auf Seiten des H könnten Rechtfertigungsgründe für den in der Fortsetzung der künstlichen Ernährung liegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vorliegen.
1. H hatte sich auf den zwischen P und ihm bestehenden Heimvertrag berufen. Der BGH prüft diesen Einwand unter dem Gesichtspunkt, ob sich aus dem Heimvertrag ein Verzicht des P auf das Recht, lebensverlängernden Maßnahmen zu widersprechen, ergibt, und verneint das. S. 2386 unter c): Der mit dem Kl. geschlossene Heimvertrag berechtigt die Bekl. nicht, die künstliche Ernährung des Kl. gegen seinen – durch seinen Betreuer verbindlich geäußerten – Willen fortzusetzen. Das vom Betreuer wahrgenommene Recht des Kl. zur Bestimmung über den eigenen Körper ist einem antizipierten Verzicht nicht zugänglich (…). Eine einmal erteilte Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität kann bis zu dessen Vornahme jederzeit widerrufen werden (BGH NJW 1980, 1903; Wagner, in: MünchKomm, 4. Aufl., § 823 Rdnr. 673); ebenso kann der Fortsetzung einer Dauerbehandlung jederzeit widersprochen werden. Der Heimvertrag kann somit nicht dahin ausgelegt werden, dass er H zu einer künstlichen Ernährung auch gegen den Willen des P berechtigt.
H hatte sich im BGH-Fall noch darauf berufen, nach dem Heimvertrag sei er auch zu einer künstlichen Ernährung des P verpflichtet; daraus ergebe sich ein Recht hierzu. Jedoch würde sich aus einer Leistungspflicht des H nicht ergeben, dass er diese Leistung dem P gegen dessen Willen aufzwingen dürfte. Aus dem Recht auf eine Leistung ergibt sich keine Verpflichtung des Gläubigers, die Leistung entgegen zu nehmen (BGH S. 2386 vor d).
2. Weiterhin hatte sich H auf Grundrechte seiner Mitarbeiter berufen. BGH S. 2386 unter d):
a) Zwar sind die Pflegekräfte des Bekl. auch in ihrer beruflichen Tätigkeit Träger der Menschenwürde (Art. 1 I GG). Das bedeutet jedoch nicht, dass damit auch ihre ethischen oder medizinischen Vorstellungen vom Schutzbereich des Art. 1 I GG umfasst sind oder mit dem verlangten Unterlassen in diesen Schutzbereich eingegriffen würde…
b) Ein Verstoß gegen Art. 2 I GG ist nicht ersichtlich; insbesondere findet das Selbstbestimmungsrecht der Pflegekräfte am entgegenstehenden Willen des Kl. bzw. des für ihn handelnden Betreuers – also an den „Rechten anderer“ (Art. 2 I GG) – ihre Grenze.
c) Ob das von den Pflegekräften verlangte Verhalten in deren Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) eingreift, wird vom BGH offen gelassen. Denn jedenfalls verleiht die Gewissensfreiheit dem Pflegepersonal kein Recht, sich durch aktives Handeln über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Betreuer vertretenen Kl. hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen (Hufen NJW 2001, 849 [853]). Darin liegt auch der Unterschied zur Normsituation des § 12 I SchKG, auf den sich das OLG zu Unrecht beruft: Danach ist zwar niemand verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Die Vorschrift berechtigt aber auch niemanden, durch positives Tun in die Rechte Dritter einzugreifen, um Abtreibungen zu verhindern. Hier wird deutlich, dass die Berücksichtigung der Grundrechte im Privatrecht immer auch verlangt, die Rechte der anderen beteiligten Privatperson, hier des P, mit einzubeziehen. Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals ihre Grenzen an dem Recht des P auf körperliche Unversehrtheit findet, so dass die Gewissensfreiheit, ebenso wie die anderen Grundrechte des Pflegepersonals, die Missachtung der von V und Dr. A getroffenen Anordnung nicht rechtfertigen kann.
Als Zwischenergebnis lässt sich feststellen, dass nach den bisherigen Überlegungen die Klage des P begründet war. Das spricht dafür, die Kosten nach § 91a ZPO dem Beklagten H aufzuerlegen.
3. Jedoch erhält der Gedankengang des BGH zum Schluss noch eine überraschende Wendung: Der BGH wirft auf S. 2386 unter 2. die Frage auf, ob sich die Pflegekräfte durch die Befolgung der Anordnungen von V und A, weil diese zum Tode des P führen, eines Tötungsdelikts schuldig machen würden. Während das bei der „Hilfe beim Sterben“ grundsätzlich nicht der Fall ist, sieht der BGH das im vorliegenden Fall als durchaus problematisch an. Er geht allerdings nicht auf die Frage ein, ob nicht das Recht des P auf Entscheidung über sein Weiterleben eine Strafbarkeit der Personen, die dieses Recht beachten, ausschließt, sondern sieht eher im Strafrecht eine Begrenzung des Rechts des P:
Die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren Sinn („Hilfe zum Sterben“, vgl. im Einzelnen BGHSt 40, 257), auf die das klägerische Verlangen zielt, erscheinen dem Senat bislang nicht hinreichend geklärt (zum Meinungsstand etwa: Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Ethik der modernen Medizin, Patientenverfügungen, BT-Dr. 15/3700, S. 37 ff., 45). Sie sind jedoch für die Entscheidung des vorliegenden Falls von Bedeutung; denn die Bekl. kann nicht zivilrechtlich zu einem Verhalten verurteilt werden, bei dem die Organe und Beschäftigten des Bekl. Gefahr laufen, sich zu den Geboten des Strafrechts in Widerspruch zu setzen.
Allerdings bietet das vorliegende Verfahren… – im Hinblick auf die hier allein zu treffende Kostenentscheidung – keinen geeigneten Rahmen, die Frage nach diesen Grenzen abschließend zu beantworten. (Möglicherweise hat sich auch der III. Zivilsenat nicht für hinreichend kompetent gehalten, um gerade diese schwierige Frage grundsätzlich zu beantworten.) Der Ausgang des vorliegenden Rechtstreits war danach letztlich ungewiss. Dementsprechend hat der BGH „die Kosten gegeneinander aufgehoben“, d. h. jede Partei trägt die außergerichtlichen, insbesondere die Anwalts-Kosten selbst, und die Gerichtskosten werden geteilt.
Zusammenfassung
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