Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Besitz an einem Kfz während der Probefahrt, § 854 BGB; Besitzlockerungen. Voraussetzungen für Besitzdiener, § 855 BGB. Gutgläubiger Erwerb, § 932 BGB. Abhandenkommen, § 935 BGB; Nichtrückgabe des Kfz nach Probefahrt. Eigentumserwerb an Urkunde nach § 952 BGB; analoge Anwendung auf Fahrzeugpapiere

BGH Urteil vom 18.9.2020 (V ZR 8/19) NJW 2020, 3711

Fall
(Unbegleitete Probefahrt)

Bei der A-GmbH, die ein Autohaus betreibt, erschien Ende August ein Mann (X) und interessierte sich für den Erwerb eines Mercedes-Benz V 220, den A als Vorführwagen anbot und dessen Preis mit 53.000 Euro angegeben war. Mit diesem wollte er eine Probefahrt unternehmen. X legte einen italienischen Personalausweis, die Meldebestätigung einer deutschen Stadt und einen italienischen Führerschein vor. Ein Mitarbeiter der A kopierte die Unterlagen. X unterschrieb einen „Fahrzeug-Benutzungsvertrag“ für eine unbegleitete Probefahrt über etwa eine Stunde und trug eine Mobilfunknummer ein, über die er erreichbar sei. Der Mitarbeiter übergab X das mit einem roten Kennzeichen versehene Fahrzeug, einen Fahrzeugschlüssel, eine Kopie der Zulassungsbescheinigung Teil I und das in einem solchen Fall vorgeschriebene Fahrzeugscheinheft. Der angebliche Kaufinteressent brachte das Auto nicht zurück; er war weder über die angegebene Handynummer noch sonst erreichbar. Nach Anzeige bei der Polizei stellten sich die von X vorgelegten Unterlagen als professionell angefertigte Fälschungen heraus. Die Identität des X konnte nicht ermittelt werden.

Kurz danach wurde in einem Internetverkaufsportal ein Mercedes-Benz V 220 angeboten. Frau B wurde darauf aufmerksam und vereinbarte mit dem Anbieter (V) ein Treffen auf einem Parkplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Dort legte V die nach seiner Behauptung auf ihn ausgestellten Zulassungsbescheinigungen Teil I und II vor. B stellte fest, dass sie die Fahrzeugidentifikationsnummer des angebotenen Fahrzeuges auswiesen. Sie erkannte nicht, dass die Bescheinigungen Fälschungen waren; bei ihnen waren aus einer Zulassungsstelle gestohlene Originalformulare benutzt worden. B schloss mit V einen Kaufvertrag über 46.500 Euro, zahlte den Betrag in bar und erhielt das Fahrzeug übergeben, außerdem einen passenden und einen weiteren Schlüssel sowie die Zulassungsbescheinigungen. Als sie das Fahrzeug bei der Zulassungsstelle anmelden wollte, wurde ihr mitgeteilt, dass es sich um das beim Autohaus A unberechtigt entwendete Fahrzeug handelt. Die Identität des V konnte nicht ermittelt werden.

A verlangt das Fahrzeug von B heraus und begründet das damit, es sei ihr durch Täuschung entzogen und anschließend gestohlen worden. Sie habe durch die Prüfung und Kopie der von dem angeblichen Kaufinteressenten vorgelegten Dokumente (Ausweis, Führerschein, Meldebestätigung), das Zurückhalten der Original-Zulassungspapiere, die Vereinbarung einer ständigen telefonischen Erreichbarkeit über Handy und die Verwendung eines roten Kennzeichens sichergestellt, dass die Ausübung der tatsächlichen Sachherrschaft über das Fahrzeug jederzeit und ausschließlich von ihrem Willen abhängig gewesen sei. Auch durch den „Fahrzeug-Benutzungsvertrag" anstelle eines Mietvertrages sei deutlich geworden, dass nur eine kurze und vorübergehende Nutzung zum Zwecke der Vertragsanbahnung beabsichtigt gewesen sei. Gegen einen Eigentumserwerb durch B sprächen auch die verdächtigen Umstände, unter denen der Kauf auf dem Parkplatz abgewickelt wurde. Selbst wenn B Eigentum erworben hätte, könne A es zurückverlangen, weil zwischen ihr als der bisherigen Eigentümerin und B keine Rechtsbeziehungen bestanden hätten, die einen Eigentumsübergang rechtfertigen könnten. B entgegnet, sie habe nichts Illegales getan und wolle das für 46.500 Euro erworbene Auto behalten. Sie verlangt von A Herausgabe der Originalpapiere und des Zweitschlüssels. Sind die von A und B geltend gemachten Ansprüche begründet?

Lösung

Vorbemerkung: Dem Urteilsabdruck in der NJW ist auf S. 3714 eine Anmerkung von Hofmann angefügt. Post MDR 2020, 1356 behandelt die „Besitzlage auf Probefahrten und in weiteren Vertragsanbahnungssituationen“.

1. Teil. Der Anspruch der A gegen B auf Herausgabe des Fahrzeugs

A. Anspruchsgrundlage kann § 985 BGB sein. B ist Besitzerin des Pkw. A müsste Eigentümerin sein.

I. Ursprünglich stand der Pkw im Eigentum der A. Durch die Probefahrt und die anschließende Unterlassung der Rückgabe hat sich am Eigentum nichts geändert.

II. A könnte das Eigentum dadurch verloren haben, dass V den Pkw auf dem Parkplatz beim Hauptbahnhof der B übereignet hat. § 929, 1 BGB, der Normalfall der Übereignung beweglicher Sachen, hat nicht zur Übereignung geführt. Zwar haben sich V und B über den Eigentumsübergang geeinigt, auch ist eine Übergabe des Pkw erfolgt. Jedoch muss bei § 929 BGB der Veräußerer der Eigentümer sein. V war nicht Eigentümer, das Eigentum lag noch bei A.

III. Nach § 932 I 1 BGB wird bei einer nach § 929 erfolgten Veräußerung der Erwerber auch dann Eigentümer, wenn die Sache nicht dem Veräußerer gehört, es sei denn, dass er zu der Zeit, zu der er nach diesen Vorschriften das Eigentum erwerben würde, nicht in gutem Glauben ist. Eine Veräußerung nach § 929 BGB in der Form der Einigung und Übergabe ist erfolgt. V war auch Besitzer, so dass ein hinreichender Rechtsschein ihn als Berechtigten legitimierte. Nicht in gutem Glauben ist der Erwerber nach § 932 II BGB, wenn ihm bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört. Da Kenntnis der B nicht in Betracht kommt, fehlt es an ihrer Gutgläubigkeit, wenn sie bei Beurteilung der Eigentumslage grob fahrlässig gehandelt hat.

1. BGH [28] Als grob fahrlässig wird ein Handeln verstanden, bei dem die erforderliche Sorgfalt den gesamten Umständen nach in ungewöhnlich großem Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (BGH NJW 2013, 1946 Rn. 11 m. w. N.)… In den Fällen der für Verkäufe gestohlener Pkws besonders anfälligen Gebrauchtwagenkäufe begründet der Besitz des Fahrzeugs allein nicht den für den Gutglaubenserwerb nach § 932 BGB erforderlichen Rechtsschein. Vielmehr gehört es zu den Mindesterfordernissen für einen gutgläubigen Erwerb eines gebrauchten Kfz, dass sich der Erwerber die Zulassungsbescheinigung Teil II (§ 12 Abs. 6 VO Fahrzeug-Zulassungsverordnung - FZV; früher: Kfz-Brief) vorlegen lässt, um die Berechtigung des Veräußerers zu prüfen. Auch wenn der Veräußerer im Besitz des Fahrzeugs und der Bescheinigung ist, kann der Erwerber gleichwohl bösgläubig sein, wenn besondere Umstände seinen Verdacht erregen mussten und er diese unbeachtet lässt. Eine allgemeine Nachforschungspflicht des Erwerbers besteht hingegen nicht (vgl. BGH NJW 2013, 1946 Rn. 13 m. w. N.).

2. B hat sich die Zulassungsbescheinigungen, insbesondere Teil II vorlegen lassen, diese geprüft und festgestellt, dass sie zu dem angebotenen Kfz gehörten. Dass sie gefälscht waren, brauchte sie nicht zu erkennen, weil die die Bescheinigungen prägenden Formulare gestohlen und deshalb echt waren. Frage ist, ob der Straßenverkauf ein besonderer Umstand ist, der einen Verdacht der B hätte erregen müssen. BGH [30] Zwar gebietet der Straßenverkauf im Gebrauchtwagenhandel besondere Vorsicht, weil er erfahrungsgemäß das Risiko der Entdeckung eines gestohlenen Fahrzeugs mindert. Ein Straßenverkauf führt aber als solcher noch nicht zu weitergehenden Nachforschungspflichten, wenn er sich für den Erwerber als nicht weiter auffällig darstellt (BGH NJW 2013, 1946 Rn. 15 m. w. N.). Dass sich der Straßenverkauf im Falle der B als besonders auffällig dargestellt hätte, ist dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. Auch die Nähe des Hauptbahnhofs ist nicht besonders verdächtig; nach Übergabe des Pkw musste V möglicherweise mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zurückfahren, so dass sich der Hauptbahnhof als Treffpunkt anbot. Zwar hätte sich B noch etwas genauer nach der Berechtigung und Identität des V bei diesem erkundigen können. Dass sie durch das Unterlassen aber eine gebotene Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße verletzt hätte, lässt sich nicht feststellen. B war daher nicht bösgläubig. Die Voraussetzungen des § 932 I 1 BGB liegen vor.

IV. Nach § 935 I BGB tritt der Erwerb nicht ein, wenn die Sache dem Eigentümer gestohlen worden, verloren gegangen oder sonst abhanden gekommen war. Gestohlen (§ 242 StGB) hat X das Fahrzeug nicht, weil er im strafrechtlichen Sinn keinen für die Wegnahme erforderlichen Gewahrsamsbruch begangen hat; vielmehr handelte es sich um eine Unterschlagung (§ 246 I StGB). Das Kfz könnte A aber abhanden gekommen sein. BGH [9] Eine bewegliche Sache kommt ihrem Eigentümer abhanden, wenn dieser den Besitz an ihr unfreiwillig verliert (vgl. BGHZ 199, 227 Rn. 8 m. w. N.).

Nicht ausreichend für ein unfreiwilliges Verlieren ist, dass ein Besitzverlust durch Täuschung bewirkt wird. BGH [9] A hat ihren unmittelbaren Besitz nicht deshalb unfreiwillig verloren, weil der vermeintliche Kaufinteressent über seine wahren Absichten getäuscht hat. Eine Besitzaufgabe ist nicht unfreiwillig, wenn sie durch Täuschung bestimmt worden ist (vgl. BGH, MüKoBGB/Oechsler, 8. Aufl., § 935 Rn. 7; Staudinger/Wiegand, BGB [2017], § 935 Rn. 11; Palandt/Herrler, BGB, 79. Aufl., § 935 Rn. 5). Ein unfreiwilliger Verlust kann auch nicht durch Anfechtung der Besitzaufgabe wegen arglistiger Täuschung (§ 132 I BGB) herbeigeführt werden, weil § 123 BGB nur bei Willenserklärungen eingreift, während die Besitzaufgabe ein Realakt ist. Dass X sich das Auto rechtswidrig und sogar strafbar (§ 246 StGB) beschafft hat, führt ebenfalls nicht zu einem Abhandenkommen. Die Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit eines Verhaltens hat für den Besitz als faktischen Umstand keine Bedeutung; deshalb wird selbst ein Dieb Besitzer der gestohlenen Sache.

Ein Abhandenkommen könnte dadurch eingetreten sein, dass X - entsprechend seinem vorher gefassten Plan - das Fahrzeug nicht zurückgebracht, sondern behalten hat. Darin liegt ein Abhandenkommen, wenn A in diesem Zeitpunkt noch Besitzerin war und X ihr den Besitz entzogen hat. Ursprünglich war A Besitzerin des Kfz. Sie könnte den Besitz aber dadurch verloren haben, dass ihr Mitarbeiter bei der Übergabe des Kfz an X diesem den Besitz daran übertragen hat.

1. Wie sich aus §§ 854 I, 856 I BGB ergibt, ist Besitzer einer Sache, wer die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt. Dabei geht der BGH vom Erwerb des Besitzes aus, [11] Der unmittelbare Besitz an einer Sache wird gemäß § 854 Abs. 1 BGB durch die tatsächliche Gewalt über die Sache erworben. In wessen tatsächlicher Herrschaftsgewalt sich die Sache befindet, hängt maßgeblich von der Verkehrsanschauung ab, also von der zusammenfassenden Wertung aller Umstände des jeweiligen Falles entsprechend den Anschauungen des täglichen Lebens (vgl. BGH NJW-RR 2017, 818 Rn. 10; WM 2015, 1434 Rn. 24 jeweils m. w. N.). Bei einer unbegleiteten Probefahrt über etwa eine Stunde spricht die Wertung nach der Verkehrsanschauung zunächst dafür, dass der Probefahrer die tatsächliche Gewalt über das Fahrzeug erlangt und der bisherige Besitzer die Herrschaft über das Fahrzeug - evtl. nur vorübergehend - verloren hat.

2. Jedoch gibt es auch bei einem faktischen Übergang der tatsächlichen Sachherrschaft Fälle, in denen der Besitz des bisherigen Besitzers fortdauert. Es sind dies: die bloße Lockerung des Besitzes, der mittelbare Besitz und der Besitzdiener. In diesen Fällen sind tatsächliche Sachherrschaft und Besitz nicht deckungsgleich. Deshalb könnte A aufgrund einer dieser Tatbestände den Besitz an dem zur Probe gefahrenen Kfz behalten haben.

(1) Es könnte eine bloße Besitzlockerung vorliegen (vgl. § 856 II BGB). BGH [12,13] Für die Besitzverhältnisse an einem Kfz. kommt es in der Regel darauf an, wer die tatsächliche Sachherrschaft über den Fahrzeugschlüssel hat. Die Übergabe eines Schlüssels bewirkt einen Besitzübergang, wenn der Übergeber die tatsächliche Gewalt an der Sache willentlich und erkennbar aufgegeben und der Empfänger des Schlüssels sie in gleicher Weise erlangt hat (vgl. BGH NJW-RR 2017, 818 Rn. 18; BGHZ 199, 227 Rn. 15). Hieran fehlt es etwa, wenn der Schlüssel zwecks bloßer Besichtigung des Fahrzeugs übergeben wird. Wird der Schlüssel für eine kurze Probefahrt ausgehändigt, spricht dies gegen eine Übertragung des unmittelbaren Besitzes und für eine bloße Besitzlockerung, weil nur die auf eine gewisse Dauer angelegte Sachherrschaft als Besitz angesehen wird (vgl. BGH NJW-RR 2017, 818 Rn. 20; generell für eine Besitzlockerung bei einer Probefahrt: MüKoBGB/Oechsler, 8. Aufl., § 935 Rn. 11; Staudinger/Gutzeit, BGB [2018], § 854 Rn. 44). Jedoch kann das für eine unbegleitete und auch nicht durch technische Vorrichtungen, die einer Begleitung vergleichbar sind, gesicherte Probefahrt von einer Stunde nicht gelten. Denn in diesem Fall bleibt der Verkäufer weder in einer engen räumlichen Beziehung zu dem Fahrzeug noch ist die Sachherrschaft des Probefahrers so flüchtig, dass ihm die Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache nach der Verkehrsanschauung abzusprechen wäre. Vielmehr kann dieser während der Probefahrt beliebig auf das Fahrzeug einwirken, während dem Verkäufer schon wegen der Distanz, die in einer Stunde zurückgelegt werden kann, jede Kontrolle über das Fahrzeug fehlt. Die Überlassung des Fahrzeugs kann daher nicht mit einer nur kurzfristigen Aushändigung eines Gegenstands zur Ansicht innerhalb der Sphäre des bisherigen Besitzers oder ähnlichen lediglich flüchtigen Sachbeziehungen, die den unmittelbaren Besitz nicht aufheben (vgl. dazu MüKoBGB/Schäfer, 8. Aufl., § 854 Rn. 30 f.; Soergel/Stadler, BGB, 13. Aufl., § 854 Rn. 8), gleichgesetzt werden.

Daran ändern auch die Sicherungsmaßnahmen, auf die A sich beruft, nichts. Der Umgang mit den Dokumenten stand in keiner Beziehung zu der Sachherrschaft am Auto. Auch der Abschluss eines „Fahrzeug-Benutzungsvertrags" statt eines Mietvertrags und die Möglichkeit eines Telefonanrufs wirkten sich nicht auf die Sachherrschaft über das Auto aus. BGH [14] Zwar kann aus der Verwendung eines roten Kennzeichens darauf geschlossen werden, dass das Fahrzeug zu einer Prüfungs-, Probe- oder Überführungsfahrt in Betrieb gesetzt wurde… Insbesondere bei einer Überführungsfahrt wird aber häufig eine größere Entfernung überbrückt, wobei durchaus naheliegt, dass mit der Überführung Personen beauftragt werden, denen der unmittelbare Besitz eingeräumt worden ist. Eine faktische Zugriffsmöglichkeit auf das Fahrzeug während der Probefahrt ergibt sich aus diesen Umständen nicht. Somit lässt sich ein Fortbestand des Besitzes der A nicht mit einer bloßen Besitzlockerung begründen.

(2) Wäre A nach Übergabe des Pkw an X mittelbare Besitzerin (§ 868 BGB) geblieben, würde ihr das nichts nützen, weil der spätere Verlust des mittelbaren Besitzes kein Abhandenkommen zur Folge hätte; letzteres setzt den Verlust des unmittelbaren Besitzes voraus. Im Übrigen war A keine mittelbare Besitzerin. Der Probefahrer steht nicht einem Nießbraucher, Mieter oder Pächter gleich. Letztere erhalten die Sachherrschaft regelmäßig für eine längere Zeit und aufgrund eines Rechts zum Besitz. Demgegenüber wird dem Probefahrer die Sache nur kurzfristig überlassen und ist auch nicht mit einem Recht zum Besitz verbunden (BGH [20]).

(3) Ein fortdauernder Besitz der A könnte damit begründet werden, dass X nur Besitzdiener (§ 855 BGB) war. Ist jemand Besitzdiener, ist nur der andere Besitzer; im vorliegenden Fall wäre das A. Nimmt der Besitzdiener die Sache in Eigenbesitz, liegt darin ein Wegfall des Besitzes des anderen, der zu einem Abhandenkommen führt (BGH [16]; BGHZ 199, 227 Rdnr. 9 m. w. N.).

Nach § 855 BGB ist Besitzdiener, wer die tatsächliche Gewalt über eine Sache für einen anderen in dessen Haushalt oder Erwerbsgeschäft oder in einem ähnlichen Verhältnis ausübt, vermöge dessen er den sich auf die Sache beziehenden Weisungen des anderen Folge zu leisten hat.

a) Ob die Probefahrt ein „ähnliches Verhältnis“ in diesem Sinne ist, wurde bisher in der Literatur unterschiedlich beurteilt (vgl. BGH [17-20]).

aa) Die die Frage bejahende Ansicht nimmt bei der Probefahrt generell eine Besitzdienerschaft an (MüKoBGB/Schäfer, 8. Aufl., § 855 Rdnr. 14; Palandt/Herrler, BGB, 79. Aufl., § 855 Rdnr. 7). Verwiesen wird dabei darauf, dass § 855 BGB nicht notwendig das Vorliegen eines Abhängigkeits- oder sozialen Über-/Unterordnungsverhältnisses voraussetze, sondern lediglich eine Beziehung, welche den Besitzherrn zur jederzeitigen Weisung bzw. zum Eingreifen, etwa zum Abbruch der Fahrt berechtige (OLG Köln MDR 2006, 90). Eine solche Berechtigung stehe dem Verkäufer gegenüber dem Probefahrer zu. Eigene Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich des Besitzes erhalte der Probefahrer nicht. Im vorliegenden Fall hatte das OLG als Berufungsgericht § 855 BGB bejaht (vgl. BGH [4]).

bb) Die Gegenansicht verneint die Besitzdienerschaft des Probefahrers, weil es an dem nach § 855 BGB vorausgesetzten sozialen Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem potentiellen Käufer und dem Verkäufer fehle. Auch habe der Verkäufer keine Möglichkeit, auf das Fahrzeug bzw. den Kaufinteressenten einzuwirken (Westermann/Gursky/Eickmann, Sachenrecht, 8. Aufl., § 9 Rdnr. 4 und 14; MüKoBGB/Oechsler, 8. Aufl., § 935 Rdnr. 11).

cc) Eine vermittelnde Meinung differenziert nach den Umständen des Einzelfalles und bejaht insbesondere bei einer nur kurzzeitigen Probefahrt (20 Minuten) mit roten Kennzeichen und ohne Übergabe von Fahrzeugpapieren eine Besitzdienerschaft (KG BeckRS 2018, 28236 Rn. 3 ff.; ähnlich BeckOGK/Götz, BGB [1.7.2020], § 854 Rdnr. 138.4; Erman/Elzer, BGB, 16. Aufl., § 855 Rdnr. 3 und 5;). Im vorliegenden Fall würde diese Ansicht zum selben Ergebnis führen wie die Gegenansicht bb), weil die Probefahrt über eine Stunde nicht nur kurzfristig war.

b) Der BGH folgt der Ansicht bb), [21,22] Ein Kaufinteressent, der eine Probefahrt mit einem Kfz unternimmt, ist nicht Besitzdiener des Verkäufers… Für das „ähnliche Verhältnis“ muss ein nach außen erkennbares soziales Abhängigkeitsverhältnis begründet werden, das dem Besitzherrn zumindest faktisch die Möglichkeit gibt, seinen Willen gegenüber dem Besitzdiener durchzusetzen. Besitzdiener ist nicht jeder, der Weisungen des Eigentümers der Sache zu befolgen hat, sondern nur derjenige, demgegenüber der Eigentümer die Einhaltung seiner Weisungen im Nichtbefolgungsfall auf Grund eines Direktionsrechts oder vergleichbarer Befugnisse unmittelbar selbst durchsetzen kann (vgl. BGH NJW-RR 2017, 818 Rn. 13; BGHZ 199, 227 Rn. 10 jeweils m. w. N.;…). Dem Kaufinteressenten wird das Fahrzeug im Rahmen der Vertragsanbahnung anvertraut (§ 311 II Nr. 2 BGB), so dass ein gesetzliches Schuldverhältnis mit den Rechten und Pflichten aus § 241 II BGB entsteht. BGH [26] Dieses gesetzliche Schuldverhältnis begründet aber kein Direktionsrecht des Verkäufers gegenüber dem Kaufinteressenten. Der Probefahrer ist also nicht vergleichbar mit einer im Haushalt tätigen Person oder mit einem Arbeitnehmer. Neben der Weisungsgebundenheit verlangt § 855 BGB, dass die tatsächliche Gewalt „für einen anderen…ausgeübt“ wird, und damit eine Fremdnützigkeit des Umgangs mit der Sache. BGH [26] Jedoch ist die Probefahrt eines Kaufinteressenten für die Beteiligten nicht fremdnützig. Sowohl der Probefahrer als auch der Verkäufer verfolgen allein eigene Interessen; der Probefahrer will das Fahrzeug im Straßenverkehr auf dessen Fahreigenschaften und Funktionalität prüfen; der Verkäufer möchte mit dem Fahrer einen Vertrag abschließen. Die Probefahrt ist somit kein „ähnliches Verhältnis“ i. S. des § 855 BGB. X war kein Besitzdiener in unmittelbarer Anwendung der Vorschrift.

c) BGH [23-26] erörtert noch, ob § 855 BGB auf den Probefahrer analog anwendbar ist. Jedoch fehlt es bereits an einer Gesetzeslücke. Es bedarf keiner Regelung, nach der ein Kaufinteressent, dem der Verkäufer für eine Stunde Probefahrt ein Auto überlässt, als Besitzdiener eingeordnet wird, zumal das im vorliegenden Fall eine Analogie zum Nachteil der B wäre, weil dieser damit die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs des Kfz versagt würde. Auch ist § 855 BGB eine Ausnahmevorschrift, was für eine enge Auslegung und gegen eine Analogie spricht. Somit scheidet eine analoge Anwendung des § 855 BGB aus (BGH [23]).

3. Folglich war X kein Besitzdiener, sondern war mit der Übergabe des Kfz durch den Mitarbeiter der A dessen Besitzer geworden. Weder bei dieser Übergabe noch bei dem späteren Ansichnehmen durch X ist ein unfreiwilliger Verlust des unmittelbaren Besitzes der A eingetreten. Somit ist der Pkw nicht i.S. des § 935 I 1 BGB abhanden gekommen. B hat ihn gutgläubig erworben, A hat das Eigentum daran verloren. Ihr steht kein Anspruch aus § 985 BGB zu.

B. Mit dem Argument der A, sie könne das Eigentum zurückverlangen, weil zwischen ihr und B keine Rechtfertigung für einen Eigentumsübergang bestünde, beruft A sich auf einen Anspruch aus § 812 I BGB. Dessen Voraussetzungen liegen insofern vor, als B das Eigentum an dem Kfz erlangt hat. Da der Eigentumsübergang nicht durch Leistung der A erfolgt ist, könnte er nur in sonstiger Weise bewirkt worden sein. Eine Vermögensverschiebung in sonstiger Weise - mit der Folge einer Nichtleistungskondiktion - ist aber subsidiär gegenüber einer Leistungsbeziehung, auch wenn ein Dritter das Erlangte geleistet hat (BGHZ 40, 272; 55, 176; NJW 2018, 1079 Rdnr. 16; K. Schmidt JuS 2016, 73: „Wer durch irgendjemandes Leistung bereichert ist, ist keinerlei Nichtleistungskondiktion ausgesetzt“). Im vorliegenden Fall hat X als Dritter der B das Kfz verkauft, übereignet und damit geleistet. Dass X dabei rechtswidrig fremdes Eigentum übertragen hat, ist unerheblich, weil B durch den Ausschluss eines Bereicherungsanspruchs geschützt werden soll und diese an der rechtswidrigen Handlung nicht vorwerfbar beteiligt war. Somit schießt die Leistung des X an B eine Nichtleistungskondiktion der A gegen B aus. A hat auch keinen Anspruch aus § 812 BGB.

Ergebnis zu Teil 1: A hat keinen Anspruch gegen B auf Herausgabe des Fahrzeugs.

2. Teil. Anspruch der B gegen A auf Herausgabe der Originalpapiere und des Zweitschlüssels

I. Ein Anspruch auf Herausgabe der Zulassungsbescheinigungen I und II könnte sich aus § 985 BGB ergeben. Die Papiere sind noch im Besitz der A. B müsste Eigentümerin geworden sein. Nach § 929 BGB sind sie ihr nicht übereignet worden. Übereignungstatbestand könnte § 952 BGB sein, der das Eigentum an Schuldurkunden regelt.

1. Nach § 952 I 1 BGB steht das Eigentum an dem über eine Forderung ausgestellten Schuldschein dem Gläubiger der Forderung zu. Nach § 952 II BGB gilt das Gleiche für Urkunden über andere Rechte, kraft derer eine Leistung gefordert werden kann, insbesondere für Hypotheken- und Grundschuldbriefe. Das zugrunde liegende Prinzip wird üblicherweise am Beispiel des Sparbuchs so formuliert: Das Recht am Sparbuch, also das Eigentum an der Urkunde, folgt dem Recht aus dem Sparbuch, also dem Recht auf Auszahlung des Guthabens.

2. Voraussetzung ist eine Forderung oder ein anderes Recht, kraft dessen eine Leistung verlangt werden kann und das in der Urkunde verbrieft wird. Die Zulassungsbescheinigungen beziehen sich nicht auf eine Forderung oder andere Leistung. Die Bescheinigung I (§ 11 FZV; vgl. oben 1. Teil A III 1) enthält technische Daten über das Fahrzeug und dokumentiert die Genehmigung für die Teilnahme des Fahrzeugs am Straßenverkehr. Bescheinigung II (§ 12 FZV) dokumentiert, wer Eigentümer ist.

3. Da beide Bescheinigungen aber ein Recht bescheinigen - zur Teilnahme am Straßenverkehr und das Eigentum - sind sie mit den Regelungen in § 952 BGB vergleichbar. Der Eigentümer des Fahrzeugs hat ein berechtigtes Interesse daran, dass er neben dem Fahrzeug die dazu gehörenden Bescheinigungen erhält, während A im vorliegenden Fall kein schutzwürdiges Interesse daran haben kann, die Papiere ohne das Auto behalten zu dürfen. § 952 BGB ist deshalb analog anzuwenden. BGH [32] Da B das Fahrzeug gutgläubig erworben hat, steht ihr als Fahrzeugeigentümerin ein Anspruch auf Herausgabe der Original-Zulassungsbescheinigungen gegenüber A nach § 985 Abs. 1 BGB zu. In (entsprechender) Anwendung des § 952 BGB folgt das Eigentum an den Fahrzeugpapieren dem Eigentum an dem Fahrzeug (vgl. BFH WM 2020, 180 Rn. 34; KG, BeckOGK/Schermaier, BGB [1.9.2020], § 952 Rn. 15; BeckOK BGB/Kindl [1.8.2020], § 952 Rn. 5). Ein Recht zum Besitz (§ 986 BGB) steht A nach dem Verlust des Eigentums an diesen Papieren nicht mehr zu.

Folglich ist der Anspruch der B gegen A auf Herausgabe der Originalpapiere begründet.

II. Der Zweitschlüssel ist keine Urkunde, auf die § 952 BGB analog angewendet werden könnte, sondern ist ein Werkzeug. Er ist auch nicht wesentlicher Bestandteil des Autos, der nach §§ 93, 947 BGB durch Verbindung dem Eigentum am Auto folgt. Folglich hat B an dem Zweitschlüssel kein Eigentum erworben. BGH [33] B kann dessen Herausgabe weder nach § 985 BGB noch aus sonstigem Rechtsgrund von A verlangen. Das Eigentum an einem Fahrzeugschlüssel folgt nicht dem Eigentum an dem Fahrzeug selbst. Der Schlüssel ist nur Zubehör (§ 97 BGB), nicht aber Bestandteil (§ 93 BGB) des Fahrzeugs und kann daher Gegenstand von Sonderrechten sein (vgl. OLG Köln MDR 2018, 144, 145). Mangels Übergabe des Zweitschlüssels konnte B das Eigentum an diesem auch nicht gutgläubig nach § 929, § 932 BGB erwerben. B hat keinen Anspruch gegen A auf Herausgabe des Zweitschlüssels.

Ergebnis: Der Anspruch der A auf Herausgabe des Kfz ist nicht begründet. Begründet ist der Anspruch der B auf Herausgabe der Papiere, während der Anspruch auf den Zweitschlüssel unbegründet ist.


Zusammenfassung