Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Körperverletzung (§ 223 StGB) und Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB). Begriff des Amtsträgers, § 11 I Nr. 2 StGB. ► Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung (§ 11 I Nr. 2 c StGB). Aufgaben und Aufgabenverteilung beim öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Festnahmerecht nach § 127 StPO

KG (Kammergericht) Berlin Beschluss vom 30. 4. 2008 (1 Ss 223, 73/05) NJW 2008, 2132

Fall
(Wütender Busfahrer)

A war als Busfahrer der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG, früher Berliner Verkehrsgesellschaft) tätig. Die BVG sind nach einem Berliner Landesgesetz eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts und mit der Durchführung des Nahverkehrs in Berlin — mit Ausnahme der S-Bahn — beauftragt. Die BVG unterstehen der Aufsicht des Berliner Senats. Zu den Aufgaben eines Busfahrers gehört auch der Verkauf von Fahrscheinen, die Erteilung von Auskünften und die Bewältigung von Konfliktsituationen gegenüber Fahrgästen und anderen Verkehrsteilnehmern.

Am 9. 11. fuhr A einen Linienbus im Einmannbetrieb. Nächste Station war der S-Bahnhof Prenzlauer Allee. Dort wollten einige Fahrgäste, u. a. der F, aussteigen und in die S-Bahn umsteigen. Nach Ansicht des A zeigten sie aber ihren Haltewunsch zu spät an, so dass der Bus ohne Halt bis zur nächsten Station durchfuhr. Beim Aussteigen rief F, der nun zur Station Prenzlauer Allee zurücklaufen musste, deutlich vernehmbar „Danke, Arschloch“ und ging in normalem Fußgängertempo auf dem Gehweg zurück in Richtung Prenzlauer Allee. A war durch die Beleidigung so erbost, dass er den Bus verließ und F nachlief. Etwa zehn Meter hinter dem Bus hatte er ihn eingeholt. Mit beiden Armen gab A dem F, der den A weder gesehen noch gehört hatte, von hinten einen so kräftigen Stoß, dass dieser zunächst auf die Knie und danach auf den Bauch fiel. Dabei zog er sich Schürfwunden an der Hand und am Knie zu und erlitt eine schmerzhafte Brustprellung. Wie hat A sich strafbar gemacht ?

A. A könnte sich wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 I StGB) strafbar gemacht haben.

I. A hat den Tatbestand des § 223 in objektiver und subjektiver Hinsicht verwirklicht.

1. Er hat den F so gestoßen, dass dieser gestürzt und auf die Knie und den Bauch gefallen ist, und dadurch körperlich misshandelt. Er hat ihm Schürfwunden und eine Prellung zugefügt und dadurch an der Gesundheit geschädigt.

2. Da ein kräftiger Stoß gegenüber einem Gehenden von hinten ohne weiteres solchen Folgen haben kann, hat A entweder absichtlich und direkt vorsätzlich gehandelt oder zumindest solche Folgen billigend in Kauf genommen.

II. Zugunsten des A könnte aber ein Rechtfertigungsgrund eingreifen. § 127 I 1 StPO bestimmt: „Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.“ Bei Antragsdelikten, zu denen grundsätzlich die Körperverletzung gehört (§ 230 I 1 StGB), ist die Festnahme auch ohne Antrag zulässig (§ 127 III StPO).

1. F hatte den A durch die offensichtlich auf ihn gemünzte Bezeichnung „Arschloch“ beleidigt (§ 185 StGB). A hatte ihn auf frischer Tat verfolgt. Das Sich-Entfernen des F erweckte den Verdacht einer Flucht, zumindest war die Identität des F nicht festgestellt. A hatte somit ein Festnahmerecht. Bei diesem kommt es nach der klaren gesetzlichen Regelung in § 127 I 1 StPO nicht auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Anlasstat und Festnahme an. § 127 StPO soll die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ermöglichen, das nicht von einem bestimmten Verhältnis zwischen Anlasstat und Ermittlungsverfahren abhängt und auch bei einem Missverhältnis von Anlasstat und Ermittlungsverfahren durchzuführen ist.

2. Anders liegt es bei der Frage des zur Festnahme eingesetzten Mittels - der Festnahmehandlung - ; hier muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden (BGHSt 45, 378, 381).

a) Danach war es für A nicht notwendig, den F zu Boden zu stoßen. A hätte F auffordern können, stehen zu bleiben und seinen Namen und seine Adresse bekannt zu geben. Hätte F das verweigert, hätte A ihn festhalten können. Jemanden ohne Vorwarnung von hinten zu Boden zu stoßen und dabei nicht unerheblich körperlich zu verletzen, kann keine notwendige Festnahmehandlung sein.

b) Außerdem war es unangemessen, wegen einer „im Vorübergehen“ und offensichtlich aus einem momentanen Ärger heraus begangenen, aus zwei Wörtern bestehenden Beleidigung Gewalt anzuwenden und dem Täter Verletzungen an Hand, Knie und Brust zuzufügen.

A steht somit der Rechtfertigungsgrund des § 127 StPO nicht zu.

III. Da A auch schuldhaft gehandelt hat, hat er sich wegen vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil des F strafbar gemacht.

B. A könnte sich wegen Körperverletzung im Amt (§ 340 I StGB) strafbar gemacht haben. Dann müsste er die Körperverletzung „als Amtsträger…während der Ausübung seines Dienstes…“ begangen haben.

I. A müsste Amtsträger gewesen sein. Der Begriff des Amtsträgers ist in § 11 I Nr. 2 StGB definiert.

1. A fällt nicht unter a) oder b): Er ist nicht Beamter oder Richter und steht auch nicht in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis. Er steht zur Betreiberin der Busse, der BVG, in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis, ist also Angestellter.

2. Nach § 11 I Nr. 2c) ist auch Amtsträger, wer dazu bestellt ist,

- bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag
- Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen
- unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform.

a) Die BVG könnten eine sonstige Stelle sein. Nach KG S. 2132 unter aa) sind Unternehmen der öffentlichen Hand „sonstige Stellen“, wenn sie bei ihrer Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei derart staatlicher Steuerung unterliegen, dass sie bei einer Gesamtbetrachtung als „verlängerter Arm“ des Staates erscheinen (vgl. BGHSt 49, 214, 219 - Deutsche Bahn; BGHSt 43, 370, 377 - GTZ). Zentrales Merkmal ist danach die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, die als zweite Voraussetzung des § 11 I Nr. 2c) nachfolgend unter c) ohnehin zu prüfen ist.

b) Die Organisationsform hat nach § 11 I Nr. 2c) keine Abgrenzungsfunktion zu. Deshalb würde sich die hier zu behandelnde Frage nach der Amtsträgerschaft des A auch dann stellen, wenn - wie im Normalfall - eine kommunale Eigengesellschaft in privatrechtlicher Form (GmbH, AG) die Aufgabe des Nahverkehrs wahrnehmen und A für diese tätig sein würde (KG S. 2133 li. Sp. oben). Eine öffentliche Anstalt, die Rechtsform der BVG, kann nach seiner Organisationsform unzweifelhaft ein Unternehmen sein, das öffentliche Aufgaben wahrnimmt.

c) Folglich ist A Amtsträger, wenn die BVG und er für diese Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnehmen.

aa) KG S. 2133 li. Sp. oben: Zu den Aufgaben öffentlicher Verwaltung gehört nicht nur die hoheitliche Ausübung staatlicher Anordnungs- und Zwangsgewalt [die Eingriffsverwaltung; eine solche liegt hier nicht vor], sondern auch die schlicht-hoheitliche Tätigkeit, die dem Bereich der Daseinsvorsorge zugeordnet wird und dazu bestimmt ist, unmittelbar für die Daseinsvoraussetzungen der Allgemeinheit…zu sorgen.

bb) Für die richtige Einordnung der Aufgaben des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ist die gesetzliche Regelung dieses Sachgebiets heranzuziehen, die sich aus EU-Recht, deutschem Bundesrecht und Landesrecht ergibt (Nachweise bei KG S. 2133). Sie unterscheidet wie folgt:

(1) Zunächst gibt es den Aufgabenträger. Insoweit bestimmt das Bundesgesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (Regulierungsgesetz - RegG) von 1993 in § 1, dass der ÖPNV eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist, und überträgt diese Aufgabe auf die Länder (sie erhalten dafür die sog. Regionalisierungsmittel gemäß Art. 106a GG, die im wesentlichen für den Schienenverkehr bestimmt sind). Im Anschluss daran haben sämtliche Länder eigene ÖPNV-Gesetze erlassen, in denen sie die Aufgabenträger bestimmen (teilweise die Kreise und kreisfreien Städte, teils Zweckverbände, in Berlin das Land Berlin).

(2) Wie vom EU-Recht vorgeschrieben wird, sind vom Aufgabenträger zu unterscheiden die Verkehrsunternehmen (das sind die Deutsche Bahn und andere Verkehrsunternehmen, die Bus- oder Schienenverkehrsleistungen anbieten). Der Aufgabenträger bestellt - auf der Grundlage eines Nahverkehrsplanes - die Verkehrsleistungen bei dem Verkehrsunternehmen (und zahlt dafür Beträge aus den Regulierungsmitteln). Das Verkehrsunternehmen erbringt die Verkehrsleistungen gegenüber den Benutzern des ÖPNV und muss sich im Markt behaupten.

(3) Außerdem gibt es die Genehmigungsbehörde nach dem Personenbeförderungsgesetz.

In diesem „Regulierungsdreieck“ Aufgabenträger, Verkehrsunternehmen und Genehmigungsbehörde werden Aufgabenträger und Genehmigungsbehörde hoheitlich tätig und nehmen Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahr.

cc) Was die Einordnung der Verkehrsunternehmen betrifft, ist diese nicht von vornherein klar.

(a) Wegen der Trennung von gemeinwohlorientiertem Aufgabenträger und eigenwirtschaftlich tätigen Verkehrsunternehmen wird vertreten, die Verkehrsunternehmen seien am Markt tätige Dienstleister und nähmen keine Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahr, so dass auch ihre Mitarbeiter keine Amtsträger seien (so Becker StV 2006, 263, 268).

(b) KG S. 2133 unter b): Diese Argumentation beachtet aber nicht ausreichend, dass auch derjenige als Amtsträger nach § 11 I Nr. 2c StGB anzusehen ist, der im Auftrage der sonstigen Stelle - hier des Trägers der Aufgabe der Daseinsvorsorge ÖPNV - tätig ist. Die BVG und ihre Mitarbeiter haben die Aufgabe, in Berlin den ÖPNV mit dem Ziel einer kostengünstigen und umweltfreundlichen Verkehrsbedienung durchzuführen und erhalten dafür erhebliche öffentliche Mittel. Damit nehmen sie eine Aufgabe der Daseinsvorsorge tatsächlich wahr und werden im Bereich öffentlicher Verwaltung tätig. Daraus folgt die Amtsträgerschaft des A. (Das KG hat diese Frage wegen der Überlegungen nachfolgend unter II 2 letztlich offen gelassen.)

II. Die Körperverletzung muss der Amtsträger nach § 340 I StGB „während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst“ begangen haben.

1. Versteht man diese Formulierung rein zeitlich, so hat A den F während seiner Dienstzeit körperlich verletzt, so dass eine Körperverletzung im Amt vorliegt.

2. Da aber bereits für die Amtsträgerschaft nach § 11 I Nr. 2c StGB die Erfüllung einer Aufgabe der öffentlichen Verwaltung erforderlich ist, ist ein gleicher Zusammenhang auch bei der Auslegung des § 340 StGB zu fordern. Er findet Eingang in die Auslegung des § 340 StGB über das Gebot zu einer am Schutzzweck der Norm orientierten, engeren Auslegung des § 340 I.

a) KG S. 2133 unter c): Ratio Legis für die unrechtssteigernde Wirkung der Amtsträgerschaft ist bei § 340 StGB die hinzutretende Amtspflichtverletzung (vgl. Jungclaus NStZ 1995, 582). Wesentlich ist, dass der Täter gegenüber dem Opfer seine Amtsgewalt missbraucht (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1983, 352, 353 m. w. Nachw.; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 340 Rdnr. 3).

b) Solche Amtsgewalt kommt einem BVG-Fahrer im Verhältnis zum Fahrgast nicht zu. Der Fahrgast begibt sich freiwillig, ohne jeden staatlichen Zwang in das Fahrzeug, und das Verhältnis weist auch sonst - anders als etwa dasjenige zu den Mitgliedern einer u. a. mit Signalpfeife, Tränengas, Funkgerät und Kamera ausgerüsteten Ordnungsgruppe im ÖPNV (vgl. OLG Hamburg NJW 1984, 624) - keinerlei Merkmale einer über die Wahrung des Hausrechts hinausgehenden Gewaltunterworfenheit auf (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1983, 352). Zwischen Verkehrsunternehmen und Fahrgast wird ein Werkvertrag (§ 631 BGB) geschlossen mit den vom Werkvertragsrecht begründeten Leistungs- und Schutzpflichten, von denen der Busfahrer die Beförderungspflicht und ggfs. Schutzpflichten als Erfüllungsgehilfe des Unternehmens zu erfüllen hat.

KG: Bus-, Tram- und U-Bahnfahrer treten gegenüber den Bürgern, die sie tagtäglich befördern, nicht als verlängerter Arm des Staates auf, sondern als reine Dienstleister. Einem Busfahrer obliegt es nicht mehr, „ im Betriebe…die Stadt Berlin gegenüber den Fahrgästen in seinem Wagen zu vertreten“ (so noch RGSt 75, 355, 356 im Jahre 1941). Sein Berufsbild hat sich seitdem nachhaltig verändert. Ausweislich der „Dienstanweisung Omnibus“ der BVG ist der Fahrgast nicht der Empfänger einer staatlichen Leistung und der Adressat von Anweisungen, sondern „unser Kunde“ (Nr. 10). „Das Fahrpersonal versteht sich als Gastgeber und Verkäufer einer attraktiven Dienstleistung“ (Nr. 3 V Punkt 1).

Aus den Beförderungsbedingungen folgt nichts anderes. Zwar haben die Fahrgäste „den Anweisungen des Betriebspersonals zu folgen“ (§ 4 I 2). „ Verletzt ein Fahrgast seine Pflichten, kann er von der Beförderung ausgeschlossen werden“ (§ 4 V). Diese Regelungen gehen aber über übliche allgemeine Geschäftsbedingungen eines privaten Transportunternehmens zur Gewährleistung eines sicheren Transports nicht hinaus.
Auch die im Sachverhalt erwähnten zusätzlichen Aufgaben eines Busfahrers sind keine vom Staat abgeleiteten besonderen Amtspflichten.

III. Somit kann ein Busfahrer einer kommunalen Verkehrsgesellschaft zwar als Amtsträger behandelt werden, soweit er an der Erbringung von Verkehrsleistungen als Leistungen der Daseinsvorsorge mitwirkt. Er verfügt bei seiner Tätigkeit als Busfahrer aber über keine Amtspflichten gegenüber den Fahrgästen, die er missbrauchen könnte, um eine Körperverletzung im Amt zu begehen. A hat sich deshalb nur wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung strafbar gemacht, nicht wegen einer Körperverletzung im Amt.


Zusammenfassung